Darmkrebsvorsorge: Schmerzen müssen nicht sein
Rund 90 Prozent der Darmkrebserkrankungen könnten mit einer Vorsorgeuntersuchung vermieden werden. Richtig durchgeführt ist sie auch schmerzfrei.
BERLIN taz | Die Deutsche Krebsgesellschaft und andere Organisationen haben den Monat März zum Darmkrebsmonat erklärt. Mit 73.000 Betroffenen ist dies bei Männern und Frauen die zweithäufigste Krebsneuerkrankung in Deutschland. Aber 60 Prozent der Erkrankten leben fünf Jahre später noch, viele davon gelten als geheilt. Nicht zuletzt verdanken sie dies der zunehmend verbreiteten Vorsorge.
So wertete das Deutsche Krebsforschungszentrum kürzlich die Daten von rund 3.300 Saarländern aus, die an einer Darmspiegelung im Rahmen des gesetzlichen Programms zur Krebsfrüherkennung teilnahmen. Bei Personen, für die dies nicht die erste Koloskopie im Verlauf der vergangenen zehn Jahre war, fanden sich jetzt deutlich seltener fortgeschrittene Krebsvorstufen als bei Neulingen (6,1 Prozent gegenüber 11,4 Prozent).
Doch noch immer stellen sich viele Bürger die Untersuchung qualvoll vor. Und noch immer können sie sich auf Erfahrungsberichte stützen. "Nie wieder!", verkündet zum Beispiel die 56-jährige Lehrerin Sybille S*. Sie absolvierte ihre Koloskopie kürzlich in einer Privatpraxis in Sachsen-Anhalt, welche die Darmkrebsvorsorge für eine ganze Region übernommen hat.
"Ich habe geglaubt, dass ich vorbereitet bin", sagt sie, "in dem Merkblatt stand, dass ich ein Schmerzmittel bekomme. Ich dachte: so etwas wie eine Narkose. Und dann habe ich mich wie von Messern durchschnitten gefühlt. Es war schlimmer als bei der Geburt meiner beiden Kinder. Man herrschte mich an: ,Schreien Sie nicht so, bloß noch zehn Zentimeter!' "
In ihrem ärztlichen Bericht ist das Kurzzeithypnotikum (Schlafmittel) Dormicum mit dem Wirkstoff Midazolam verzeichnet. Es unterbindet nicht die Schmerzen, gewöhnlich aber die Fähigkeit des Gedächtnisses, sie sich einzuprägen.
Julia Thiele, Assistenzärztin am Berliner Helios Klinikum Emil von Behring, kann sich so etwas nur schwer vorstellen. Rund 2.100 Patienten kommen dort jährlich zur Darmspiegelung. Sie führt dafür vorbereitende Gespräche, weist auf mögliche Schmerzen und Risiken hin und bietet eine Kurznarkose an. Ihre Aufgabe bleibt paradox: "Ich will die Leute über die möglichen Komplikationen und Schmerzen bei der Untersuchung aufklären und ihnen gleichzeitig die Angst nehmen!"
Hier bekommen die Patienten vor der Untersuchung einen intravenösen Zugang, durch den ein Muskelentspannungs- und ein Schmerzmittel zugeführt werden und auf Wunsch auch das Kurzzeithypnotikum Propofol, je nach Fall entweder allein oder in einer Mischung.
Eine Entscheidung dafür ist jederzeit noch möglich. Anders als bei einer Vollnarkose, die einen Anästhesisten erfordert, muss der Patient nicht künstlich beatmet werden.
"Ob eine Darmspiegelung ohne Kurznarkose schmerzt", sagt Christoph Söllenböhmer, leitender Oberarzt in der Endoskopie des Klinikums, "hängt von der Sensitivität des Patienten, seinem Gesundheitszustand und anatomischen Besonderheiten ab. Eine Kurznarkose empfiehlt sich immer bei sehr schlanken Frauen, bei denen sich der Darm auf wenig Platz staucht. Kaiserschnitte oder Unterleibsoperationen verhärten das umliegende Gewebe. Das Endoskop fädelt den relativ frei im Bauchraum liegenden Darm auf wie ein Gummi den Hosenbund, in den er eingezogen wird. Ist der Bund verdreht oder verengt, vergrößert sich der Widerstand."
Das Darminnere abbilden kann man heute auch mit Röntgenstrahlen, zum Beispiel einer CT-Kolonografie, oder Kapseln, welche verschluckt werden und, mit Kameras ausgestattet, den Darm durchwandern. Was das Endoskop unschlagbar macht: Es begnügt sich nicht damit, sogenannte Polypen als Vorstufen aufzuspüren. Indem es sie mit einer elektrisch aufladbaren Schlinge sofort vom Ort entfernt, bekämpft es den Krebs, bevor er einer werden kann.
Das Hauptrisiko dabei: Vor allem beim Abschneiden großer Polypen ohne Stil kann die Darmwand perforiert werden. Nach internationalen Studien passiert dies bei 0,5 bis 1 Prozent der Koloskopien. Kleinere Wunden kann man über das Endoskop wieder schließen. Wird aber doch eine OP nötig, so sind die Patienten in diesem großen Klinikum gut aufgehoben.
"Ich dachte, die Zeiten sind vorbei, in denen man den Patienten sagte: ,Nun beißen Sie mal die Zähne zusammen!' ", kommentiert Michael Mayr die schmerzhafte Erfahrung von Sibylle S. Früher leitender Oberarzt in der Gastroendoskopie eines großen Berliner Krankenhauses, führt Mayr in seiner Praxis im Süden Berlins seit 2005 jährlich rund 1.800 Koloskopien durch.
Für ihn ist Propofol "das Mittel der Wahl". Seine Angestellten musste er allerdings dafür nachschulen lassen, denn bei Überdosierungen existiert kein Gegenmittel.
"Aber unter Dormicum haben die Leute laut gejammert. Nur hinterher versicherten sie: Alles war großartig", erzählt er: "Manchmal reichte die noch guten Gewissens verabreichbare Dosis auch nicht aus, um einen Patienten zu sedieren. Dann musste ich die Untersuchung abbrechen. Unter Propofol verspüren die Leute keine Schmerzen. Es lässt sich auch viel leichter nachdosieren, weil es sich im Körper nicht akkumuliert. Deshalb haben die Patienten schon kurz hinterher wieder einen klaren Kopf "
Wenn er sehr große, flache Polypen entdeckt, trägt Mayr sie nicht in der eigenen Praxis ab, sondern bei einem Extratermin in einer Vertragsklinik. Jede Privatpraxis sollte für solche Fälle und für den Fall einer Perforation über einen Plan B verfügen.
Auf eine vorbeugend gelegte Kanüle für das Kurznarkotikum verzichtet Mayr nur in raren Fällen, "nämlich wenn jemand schon zweimal vorher bei mir die ganze Untersuchung wach und ohne jegliche Beschwerden absolviert hat". Solche Patienten sind vorwiegend korpulente Männer.
Freudig schildert der selbst schlanke Arzt, wie sich die Därme in deren großen Bäuchen sanft entfalten. "90 Prozent aller Darmkrebserkrankungen wären vermeidbar", sagt er, deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Untersuchung angenehm verläuft. Die meisten Leute glauben nur der Mundpropaganda. Wenn Freunde erzählen: Ach, das war doch gar nichts!"
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett