: Dann sehen Sie das falsch
Ein Gespräch mit Villèm Flusser im Oktober 1991 über Telematik, Humanismus und das antinatürliche Wesen des Menschen ■ Interview: Daniela Kloock
taz: Der Humanismus wird von Ihnen als eine moderne Ideologie bezeichnet, die nicht mehr existiert. Was jetzt interessiert, ist die Telematik (Wortschöpfung aus Telekommunikation und Informatik, d.Red.), die Ihrer Einschätzung nach neue, andere Werte ausarbeitet. Wie ist das zu verstehen?
Villèm Flusser: Der Humanismus ist eine unexistentielle Einstellung. Der Humanismus sagt: Ich liebe den Menschen. Das gibt es aber nicht: den Menschen. Das ist kein existentieller Begriff, das ist eine Abstraktion. Sie kennen den berühmten Satz: „Ich liebe die Menschheit; was ich nicht ausstehen kann, sind die Leute.“ Es ist ja unhaltbar, die Menschheit zu lieben.
Wenn Sie durch die Straßen gehen, sind ja die Leute nichts als Hindernisse. Wie können wir die Menschen denn im Stau lieben? So etwas ist doch eine Verlogenheit. Es ist doch vollkommen ausgeschlossen bei der demographischen Explosion — wissen Sie, leider Gottes ist die Menge ja auch ein Wertkriterium —, so zu reden.
Solange es 5.000 Leute auf der Welt gegeben hat, da war jeder einzelne außerordentlich wertvoll. Jetzt, wo es sechs Milliarden gibt, da pfeift man doch auf die Leute. Man sucht doch die Einsamkeit. Man will doch weg von den Leuten. Also, wenn wir das klägliche Ende des Humanismus einsehen, und dabei will ich gar nicht reden von Dingen wie dem Nazismus oder Stalinismus oder vom Verwandeln der Menschen in Asche, also die wirkliche Vermassung, davon will ich gar nicht reden, sondern von den alltäglichen Dingen, daß einem die Leute auf die Nerven gehen. Also, wenn einem die Leute auf die Nerven gehen, dann ist doch der Humanismus in sein Gegenteil verkehrt.
Und mit der Telematik halte ich mir die Leute vom Leibe?
Im Gegenteil. Ich beginne, existentiell bedeutende Fäden zu knüpfen. Wenn ich mit einigen Leuten in Verbindung stehe und mit ihnen Informationen austausche zur Erzeugung neuer Informationen, dann entstehen Freundschaften, aber auch Feindschaften, die existentiell wertvoll sind. Und dank der Telematik kann ich das Netz viel weiter spinnen, als ich es ohne Telematik könnte. Infolgedessen ist es denkbar, daß ein Mensch eingebettet ist in verschiedene Netze und in diesen Netzen mit anderen bedeutungsvoll in Verbindung steht. Und das ist meiner Meinung nach das, was an Stelle des Humanismus zu treten im Begriff ist.
Was bleibt dann von der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen, die ja nicht nur aus Sehen und Hören besteht?
Sie glauben, diese Technik ist nicht sinnlich? Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß es so etwas gibt wie den Teleorgasmus.
Ich kann mir nicht vorstellen, was das sein soll.
Gut. Ich werde Ihnen sagen, was das ist. Es gibt Möglichkeiten, daß Sie Verbindungen herstellen, sexuelle Querverbindungen, dank Telepräsenz, die gegenseitig zum Orgasmus führen.
Über den Kopf oder wie?
Ja, der Sitz des Orgasmus ist ja sowieso im Gehirn. Glauben Sie ja nicht, daß er in den Geschlechtsorganen sitzt.
Das dachte ich bisher immer.
Aber das ist falsch. Die Organe sind, wie der Name schon sagt, Verlängerungen des Gehirns. Sie können einen zerebralen Orgasmus haben, und dieser zerebrale Orgasmus hat die Eigenschaft, im Unterschied zum anderen, daß er ununterbrochen sein kann. Man hat das übrigens bei Ratten schon erzeugt. Man kann Ratten durch die Einführung von Elektroden ins Gehirn in einen ständigen Orgasmuszustand bringen, und diese Viecher sterben vor Glück.
Sie sterben?
...vor Glück. Sterben tun wir alle. Der Akzent ist hier nicht das Sterben, sondern das Glück. Denn sterben tun wir ja alle, nicht nur die Ratten. Aber nehmen wir das Wort „sinnlich“ in einem weiteren Sinn. Sie meinen, was am besten gesehen, gehört und so weiter werden kann. Vorläufig, Sie haben recht, ist die Telematik am besten für Sehen und Hören. Sie ist audiovisuell. Da ist sie allerdings sehr stark. Viel sinnlicher als Körper ohne Prothese, denn Sie können ja die Telematik als Prothese des Körpers ansehen.
Die Medien als Verlängerungen beziehungsweise als Ersatz für den menschlichen Körper, das hat ja bereits McLuhan so angedacht...
Nennen Sie nicht Namen. Man beginnt ja, wie Sie wissen, mit Handschuhen und Hirnen auch taktile und chemische Sinneserfahrungen zu erzeugen, also Düfte und sehr bald auch Geschmäcker. Haben wir Vertrauen zur Technik, das ist das einzige, wozu wir beim Menschen Vertrauen haben können. Die Menschen werden wahrscheinlich schlechter, aber die Technik wird besser...
Also blindes Vertrauen in die Technik?
Wozu man beim Menschen absolutes Vertrauen haben kann, ist seine Fähigkeit, immer bessere Werkzeuge zu erzeugen. Wozu er sie verwendet, dazu darf man kein Vertrauen haben, denn der Mensch verdient kein Vertrauen, auch das ist ein Ende des Humanismus.
Der Humanismus stirbt, weil wir zu den Menschen kein Vertrauen haben können. Da wären wir ja verrückt, wenn wir Vertrauen zu den Leuten hätten nach dem, was alles passiert ist. Also Vertrauen zum Alten, zum Untechnischen, können wir nicht haben. Wenn Sie die Leute zusammenlassen ohne Telematik, bringen sie einander einfach um, und das ist noch der beste Fall. Also, die Telematik ist ein bißchen anständiger als nicht Telematik, wenigstens a priori.
Natürlich kann auch sie mißbraucht werden, die Telematik, wie die Zähne oder die Fingernägel. Wenn Sie die Zähne als die erste Prothese ansehen und die Atombombe als die vorletzte oder letzte, warum soll sich der Mensch mit der Atombombe anständiger benehmen als mit den Zähnen? Es besteht ja kein Grund. Aber trotzdem, wir können doch Vertrauen darauf haben, daß die Technik immer besser wird, in dem Sinn, daß die Telepräsenz immer sinnlicher wird, viel sinnlicher als die „face to face“-Präsenz.
Das würde ich nicht so sehen.
Ja, aber dann sehen Sie das falsch. Gestatten Sie, ich werde Ihnen ein Beispiel sagen. Wenn Sie zum Fußball gehen, und Sie stellen sich in eine Schlange und kaufen sich eine Karte, gehen auf einen unbequemen Platz und sehen nur ungefähr, was mit dem Ball geschieht, und dann brüllen Sie, wenn alle Leute brüllen, und danach gehen Sie müde nach Hause. Oder wenn Sie das Fußballspiel im Fernsehen sehen, von verschiedenen Standpunkten aus, so daß Sie die ganze Struktur und die ganze Strategie des Spiels sehen können, dann behaupte ich, daß die Telesicht unverhältnismäßig sinnlicher, tiefer und bedeutender ist als die „face to face“-Sicht, und solche Beispiele kann ich Ihnen viele geben. Also, diejenigen, die da anderer Meinung sind, irren sich. Ich sage ja nicht, daß die „face to face“- Gegenwart völlig durch die Telegegenwart ersetzt wird, ich sage nur, daß es Fälle gibt, in denen die Telepräsenz der „face to face“-Gegenwart vorzuziehen ist. Ich sehe mir viel lieber das, was in Jugoslawien passiert, im Fernsehen an, als nach Zagreb zu fahren, nicht weil es unangenehmer wäre, in Jugoslawien zu sein, sondern weil ich einen viel besseren Überblick habe, wenn ich es mir in der Television anschaue.
Für Sie mag das so gelten, denn Sie haben Ihre Theorie und Ihren Standpunkt. Aber die anderen, die sind schlichtweg froh, daß sie mit all diesen Ereignissen nicht direkt konfrontiert sind und es sich zu Hause im Fernsehsessel bequem machen können.
Sie tun mir Unrecht. Ich glaube, jeder Mensch, der sich in der Television Zagreb anschaut, weiß mehr darüber als die Leute in Zagreb. Das ist doch die alte Frage von Bergson: „Wer kennt Paris besser? Der dort wohnt, aber sich nicht auskennt, oder wer dort nie war, aber die Geschichte von Paris kennt und genau den Stadtplan?“ Entscheidungen darüber sind nicht zu treffen. Es sind zwei verschiedene Arten von Kenntnis. Ich mache kein Plädoyer gegen „face to face“. Ich argumentiere gegen jede naive Meinung, wonach die Telepräsenz weniger sinnlich sei als die „face to face“-Präsenz.
Und was passiert mit dem, ich nenne das jetzt mal: „Rest“, daß ich jemanden direkt anfassen, riechen, lachen sehen kann?
Diese Direktheit gibt es doch gar nicht. Es ist doch alles vermittelt. Es gibt keine natürliche, unvermittelte Begegnung zwischen Menschen. Es ist ja nicht wahr, daß, wenn ich Sie sehe, ich mich sofort auf Sie stürze als ein Männchen auf ein Weibchen, wie ich es natürlicherweise tun sollte, sondern unser Verhalten ist ja außerordentlich kodifiziert. Wenn wir hier „face to face“ zusammensitzen, sitzen wir ja nicht unmittelbar, sondern wir sind vernetzt durch eine ganze Reihe von Sitten, denn Sinnlichkeit ist Sittlichkeit. Wissen Sie, es gibt nichts Unvermitteltes. Der Mensch ist ein mittelbares Wesen, ein mediales Wesen, wie man heute sagt, er ist ein antinatürliches Wesen. Ein natürliches Verhalten, wo ich, wenn ich zum Beispiel die geringste Wut auf Sie habe, Ihnen die Augen ausreiße, so etwas gibt es doch nicht mehr. Ich würde sagen: zum Glück.
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Die Natur ist der Feind des Menschen. Oder, wenn Sie das umgekehrt sagen wollen, der Mensch ist ja ein antinatürliches Wesen. Stellen Sie sich doch vor, wie eine angeblich natürliche Gesellschaft ausgesehen hat. Da waren Weibchen mit einigen Jungen, und ringsherum waren die Männchen, die sind herumgestrolcht und haben darauf gewartet, daß der Vater krank wird, und dann haben sie sich auf ihn gestürzt und ihn zu Tode gebissen, um sich auf die Mütter zu stürzen und ihnen Kinder zu machen. Das war doch nicht so schrecklich sympathisch, oder?
Nein. Aber die Vorstellung einer telematischen Gesellschaft finde ich auch nicht so schrecklich sympathisch.
Ich finde den Menschen überhaupt nicht sympathisch.
Ich möchte hier noch eine Sache sagen, damit wir uns einigen. Die Telepräsenz ist nicht neu herausgekommen aus dem Koffer wie die Pallas Athene, sondern die zwischenmenschlichen Beziehungen haben sich im Laufe der Jahrmillionen immer mehr verfeinert. Im Verhältnis zum Neandertaler war die Gesellschaft des Homo sapiens schon telematisch. Die Veränderungen sind nur quantitativ. Das Telefon steht im Verhältnis zum natürlichen Grunzen dem Alphabet viel näher...
Ich möchte noch etwas anderes fragen: Sie schreiben innerhalb Ihrer Kulturtheorie von diesen zwei großen Zäsuren. Von der Ablösung des traditionellen Bildes durch die Schrift und später von der Ablösung der Schrift durch die technischen Bilder. Können Sie das hier etwas konkretisieren?
Die Schrift entstand, und das können wir an bestimmten Tafeln genau sehen, als man Bilder in Teile zerlegte. Heute würden wir sagen: in Pixels, damals sagte man in Piktogramme.
Die Schrift diente also ursprünglich dazu, Bilder zu erklären? Und zwar ganz ausschließlich?
Ja, aber warum muß man ein Bild erklären? Doch nur, weil es irgendwie unklar ist. Es ist etwas Undeutliches an Bildern, etwas Vieldeutiges. Und diese Vieldeutigkeit verstellt, was es meint. Man hat angefangen zu schreiben, als Bilder zu kompliziert wurden. Und als sie infolgedessen dazu verleitet haben, daß sich die Leute die Bilder anschauten, nicht um sich an ihnen in der Welt zu orientieren, sondern um ihre Erfahrungen in der Welt dazu zu benutzen, die Bilder zu entziffern. Das nenne ich Magie, und das ist gar nichts Abstraktes, das ist etwas außerordentlich Konkretes.
Die Schrift ist also davon ausgegangen, die Bilder zu erklären. Und das ist ihr gelungen. Dann wurde sie immer unvorstellbarer. Wenn Sie sich die Texte in der Wissenschaft anhören, so können Sie sich darunter überhaupt nichts vorstellen. Die Texte sind so weit vorgedrungen, daß sie eine vollkommen unvorstellbare Welt zeigen. Beispielsweise die Quantentheorie besagt Ihnen: Teilchen der Atome sind stehende Wahrscheinlichkeitsfälle. Das hören Sie sich an, aber Sie können sich darunter nichts vorstellen. Die Welt ist unvorstellbar geworden. Aber in einem ganz anderen Sinn. Sie ist nämlich erklärt und dennoch unvorstellbar. Oder gerade weil sie erklärt ist, ist sie unvorstellbar.
In dieser unvorstellbaren Welt hat man versucht, sich wieder Bilder von der Welt zu machen. Und dazu hat man die Wissenschaft benutzt. Die Wissenschaft, die die Welt unvorstellbar geschaltet hat, soll mir Maschinen bauen, die mir erlauben, mir diese Welt wieder vorzustellen.
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