Daniel Cohn-Bendit zur Europawahl : Was tun gegen Europas Rechte?
Daniel Cohn-Bendit zur Europawahl: Die AfD und die Rechtspopulisten in Europa zwingen uns, unser Verhältnis zu Deutschland und zur EU neu zu definieren.
taz FUTURZWEI | Wenn die Konservativen im EU-Parlament daran denken, eine Mehrheit mit den Rechtspopulisten zu gestalten, wäre es das Ende der europäischen Souveränität. Ich glaube nicht, dass das jetzt passiert, weil die CDU auseinanderbräche, wenn sie eine Mehrheit mit Le Pen, AfD, Meloni und Orban sicherte. Das würden die liberalen Konservativen vom Schlage Daniel Günthers und Hendrik Wüsts nicht mitmachen.
Aber perspektivisch steht Europas Souveränität bei den Europawahlen Anfang Juni bereits auf dem Spiel und konkret die Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen, vor allem des Parlaments.
Das Problem geht über die aktuellen Wahlen hinaus. Die europapolitische Kultur ist brüchig geworden in den Mitgliedsstaaten und deshalb auch in Europa. Dafür muss man nicht allein auf Orban zeigen. Ein besonders drastisches Beispiel dafür war der Umgang mit dem EU-Lieferkettengesetz durch die Bundesregierung. Das Gesetz soll Europas Unternehmen zur Achtung der Menschenrechte, der Umwelt und des Klimas verpflichten.
Nationale Egoismen schwächen uns alle
Es ist verheerend, wenn man sich in der EU nach zweijährigen Verhandlungen darauf einigt, und dann wird das wegen einer Vier-Prozent-Partei in der deutschen Regierung gekippt. Das zeigt, wie schnell man Europa aus den Angeln heben kann. Europa muss sich auf ausgehandelte Kompromisse zwischen EU-Institutionen (Kommission, Rat und Parlament) verlassen können. Wenn es das nicht kann, dann geht nichts mehr in Europa.
Dabei haben wir noch nie so viel Europa gebraucht wie heute: sozial, ökologisch, militärisch, wirtschaftlich und machtpolitisch. Und in dieser Situation, in der Europa so gebraucht wird, wird es geschwächt durch nationale Egoismen.
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Wenn Deutschland so handelt, Holland monatelang keine Regierung hinkriegt, perspektivisch Marine Le Pen in Frankreich an die Macht kommt, dann sind die Nationalstaaten dabei, das Gerüst kaputt zu machen, das wir für Europa brauchen.
Nicht denselben Fehler machen wie die Briten
Das Problem sind aber nicht nur die nationalen Regierungen und Parteien; die Widersprüche sind auch in der Bevölkerung. Es besteht die Gefahr, dass die Leute intuitiv den gleichen Fehler machen wie die Briten, die dachten, Europa sei schuld und zwinge sie zum Falschen, und der Brexit würde ihnen mehr Souveränität bringen. Dieser nostalgische Nationalismus mit seiner Souveränitätsillusion ist eine starke Erzählung, weil er hochemotional ist, an das Gefühl appelliert und nicht an die Vernunft. Das kann sich auch bei den kommenden Wahlen niederschlagen.
Die Briten merken inzwischen, dass man mit Rückzug aufs Nationale nicht etwa Souveränität gewinnt, wie die Brexiter behauptet haben, sondern verliert. Doch die politische Realität bleibt erst einmal, dass man mit einer rationalen Begründung nicht durchkommt, das sehen wir ja auch bei der Klimapolitik. Wenn dann Verantwortliche wie die FDP auch noch alles tun, um das Vorurteil zu bestätigen, dass es mit der Ampel, mit Europa nichts werden kann, dann sind wir im Schlamassel.
Was tun? Es gibt keine Zauberformel. Man muss schon sehen, dass die rationalen, und die pathetischen Erzählungen nicht durchgeschlagen haben, nicht einmal das materielle Versprechen von mehr Wohlstand durch mehr Europa. Und doch sind wir zur Aufklärung verdammt. Nur so kann man das Irrealistische durchbrechen.
Man muss den Frieden auch verteidigen
Dazu gehört eine Erzählung der Stärke Europas. Als Nationalstaaten sind wir schwach, zusammen können wir stark sein. Man muss dafür auch erzählen, wer die Feinde und Gegner sind und werden können. Putin, Xi, Trump, Nazis, Rechtspopulisten und andere Anti-Demokraten. Und was die tun können, wenn wir unsere Souveränität nicht hinkriegen, auch militärisch.
Es nutzt nichts, zu sagen, wir wollen den Frieden. Man muss den Frieden und seine Unabhängigkeit auch verteidigen können. Wer den Feind nicht kennt, wird den Frieden nicht finden. Ansonsten muss man auch im Detail sagen, wo es mehr europäische Politik braucht, neben Verteidigung auch bei Außen- und Sicherheitspolitik, Industriepolitik, Rohstoffpolitik, Energiepolitik, Verkehrspolitik. Und wo wir eine andere EU-Politik brauchen, etwa bei der Landwirtschaft.
taz FUTURZWEI N°28: Weiterdenken
Wer ist „Der kleine Mann“, wer sind „Die da oben“, wie geht „Weltretten“, wie ist man „auf Augenhöhe“ mit der „hart arbeitenden Bevölkerung“? Sind das Bullshit-Worte mit denen ein produktives Gespräch verhindert wird?
Über Sprache und Worte, die das Weiterdenken behindert.
U.a. mit Samira El Ouassil, Heike-Melba Fendel, Arno Frank, Dana Giesecke, Claudia Kemfert, Wolf Lotter, Nils Minkmar, Bernhard Pörksen, Bernhard Pötter, Florian Schroeder, Paulina Unfried, Harald Welzer und Juli Zeh.
Das Beschwören eines europäischen Verfassungspatriotismus ist bisher alles andere als eine Erfolgsgeschichte, das gebe ich zu. Viele Leute wissen vermutlich auch gar nicht, dass der Vertrag von Lissabon im Grunde eine Verfassung ist, auch wenn sie nicht so heißen darf.
Vom deutschen Verfassungspatriotismus lernen
Das ändert nichts am Problem: In einem gewissen Ausmaß brauchen wir Verfassungspatriotismus. In diesem Kontext sehe ich die großen Demos gegen die AfD seit Anfang des Jahres als späten Sieg von Jürgen Habermas, der den Begriff des Verfassungspatriotismus zwar nicht erfunden, aber entscheidend geprägt hat. Die Millionen auf den Straßen, das sind Verfassungspatrioten, die sich mit den Grundwerten und Institutionen der Bundesrepublik und ihrer pluralen Gesellschaft identifizieren.
Dieser Verfassungspatriotismus, den wir in Deutschland sehen, den muss man überführen in einen europäischen Verfassungspatriotismus. Ich gebe zu, man hat viele Jahre bei dem Wort Verfassungspatriotismus nicht gewusst, was das sein und wofür das gut sein soll.
Aber jetzt ist es anders. Die AfD hat uns gezwungen, unser Verhältnis zu Deutschland neu zu definieren und die Rechtspopulisten in Europa zwingen uns, unser Verhältnis zu Europa neu zu definieren. Das ist die Herausforderung dieser Wahl und der Zeit danach.
Und falls jemand noch spätpubertäre Schwierigkeiten hat mit dem Wort Patriotismus, dann nennen wir uns eben Verfassungsidealisten.
■ Dieser Beitrag ist in unserem Magazin taz FUTURZWEI N°28 erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe von taz FUTURZWEI gibt es im taz Shop.