: Damm gegen Massenentlassungen
■ Tarifkompromiß in der Metallindustrie der DDR / Lohnausgleich, Arbeitszeitverkürzung, Schutz vor Entlassung bei Weiterqualifikation / Kurzarbeit wird mit Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen kombiniert
Berlin (taz) - Der Tarifkonflikt in der Metallindustrie der DDR im Pilotbezirk Berlin-Brandenburg ist beendet. Die Tarifparteien einigten sich in der Nacht von Donnerstag zu Freitag auf Lohnerhöhungen von 250 bzw. ab 1.Oktober 300 Mark, die 40-Stunden-Woche ab 1. Oktober, einen Grundurlaub von 20 Tagen und - als wichtigste Regelung - einen Kündigungsschutz für alle Beschäftigten bis zum 30. Juni 1991. Für diejenigen, die an Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen, gilt der Kündigungsschutz bis 31. März 1991.
Eigentlich waren die Zeichen schon am Donnerstagvormittag ganz auf Kompromiß gestellt. Am Nachmittag, so wurde erwartet, sei das Tarifpaket unterschriftsreif und die Gewerkschaft bestellte die Journalisten für 19 Uhr zum Verhandlungsort im ehemaligen FDGB-Haus am Märkischen Ufer in Ost-Berlin. Aber dann hatten sich die Unternehmer unverhofft quer gestellt. Insbesondere die Regelungen zum Kündigungsschutz und zur Umschulung und Qualifizierung gingen den Arbeitgebern gegen den Strich. Die Berater aus dem BRD-Arbeitgeberverband Gesamtmetall wollten offensichtlich nicht akzeptieren, daß in der DDR möglich sein sollte, wofür es in der Bundesrepublik keine gesetzliche Grundlage gibt: Kurzarbeit mit Qualifizierungs und Umschulungsmaßnahmen zu kombinieren und damit Arbeitslosigkeit zu vermeiden.
Die Regelung sieht vor, daß Beschäftigte, die nicht weiter beschäftigt werden können, Kurzarbeitergeld erhalten. Das Kurzarbeitergeld beträgt entsprechend den Bestimmungen des Arbeitsförderungsgesetzes 63 Prozent für Beschäftigte ohne, 68 Prozent des bisherigen Nettolohns für Beschäftigte mit Kindern. Dieses Kurzarbeitergeld wird von den Betrieben um 22 Prozent aufgestockt, also auf 85 bzw. 90 Prozent des Nettolohns. Auf besonders heftigen Widerstand der Arbeitgeber stieß die Möglichkeit, diese Regelung für jene Beschäftigten, die an Qualifikations- und Umschulungsmaßnahmen teilnehmen, über ein Jahr hinaus bis Ende März 91 zu verlängern. Damit hat die IG Metall ihre Forderung nach einem zweijährigen Kündigungsschutz weitgehend durchgesetzt. Gleichzeitig aber wird damit Druck auf die „freigesetzten“ Beschäftigten ausgeübt, sich auch tatsächlich an den Qualifizierungsmaßnahmen zu beteiligen. Die Gewerkschaft sieht den Abschluß als Erfolg, weil damit nach ihrer Meinung ein Damm gegen die im Herbst drohenden Massenentlassungen errichtet wird. Die Belastung für die Unternehmen sei tragbar, weil im Falle von Entlassungen erhebliche Sozialplankosten auf sie zukämen und innerhalb der Kündigungsfristen der volle Lohn weitergezahlt werden müsse. Gleichzeitig sei das Qualifizierungsprogramm eine Investition in die Zukunft. Es wird erwartet, daß der Kompromiß im Bezirk Berlin-Brandenburg von den anderen Tarifbezirken der DDR-Metallindustrie übernommen wird.
Auch in anderen Branchen wurden am Donnerstag neue Tarife vereinbart. Für die rund 200.000 Beschäftigten des DDR -Handels wurde eine einmalige Zahlung von 275 Mark pro Vollbeschäftigten vereinbart. Lehrlinge und Teilzeitbeschäftigte erhalten einen Zuschlag von 100 Mark. Auch hier sollen die Arbeitsplätze durch Umschulung und Qualifizierung gesichert werden. Die Tarifverhandlungen werden in August fortgesetzt.
In der Freitagsausgabe der 'Neuen Osnabrücker Zeitung‘ meldete sich der wirtschaftspolitische Sprecher der West -SPD, Wolfgang Roth, mit einem Ratschlag an die Gewerkschaften: sie sollen sich angesichts der fehlenden Leistungsfähigkeit der DDR-Betriebe mit Lohnforderungen zurückhalten. „Sonst haben wir im Herbst Hunderte von Fällen wie seinerzeit in Rheinhausen“, meinte der SPD-Politiker. In Rheinhausen/Duisburg hatte die Belegschaft des von Schließung bedrohten Stahlwerks die Region wochenlang mit Streiks und Straßenaktionen in Atem gehalten. Roth befürchtet für die DDR einen „sozialpolitischen Flächenbrand“, wenn die Löhne zu sehr steigen und damit die Arbeitslosigkeit vergrößern.
marke
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