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Dabeisein ist nicht alles

■ Musikfest: Akustische Irritationen bei John Norrington mit seinen London Classical Players am Dienstag im Dom

Der grandiose Eindruck, den Harnoncourt mit seinem Chamber Orchestra of Europe am Samstag hinterließ, ist kaum verarbeitet, da sitzt, drei Tage später, schon das nächste Spitzenorchester im Dom: die London Classical Players, zusammen mit dem Schütz Choir of London und ihrem Leiter Roger Norrington. Norrington ist, neben Nicolaus Harnoncourt und John Eliot Gardiner, sozusagen der zweite jenes „Dreigestirns“ von Dirigenten, die sich als Pioniere einer historischen Aufführungspraxis verdient gemacht haben und die alle zum wiederholten Male auf dem Musikfest anzutreffen sind.

Auf dem Programm standen die zweite Sinfonie von Robert Schumann und Gioacchino Rossinis „Stabat Mater“. Zwei Werke, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, auf den zweiten Blick aber wesentliche Gemeinsamkeiten verraten, die im Biographischen begründet liegen: Beide Werke sind im Abstand von nur drei Jahren komponiert worden (Rossini 1842, Schumann 1845/46), und beide – und das ist das Entscheidende – sind Ausdruck einer Krise. Schumann war psychisch und physisch stark angeschlagen, immer wieder spricht er von einer „dunklen Zeit“, in der die Sinfonie entstand. Und auch Rossini ist so erschöpft, daß er sich völlig ins Privatleben zurückzieht. Beide Komponisten suchen Trost, Hoffnung und Halt in ihrer Komposition: Rossini, durch religiöse Kindheitserinnerungen angeregt, verpackt seinen Schmerz in den mittelalterlichen Stabat Mater-Text; Schumann dagegen läßt seinem Leid freien Lauf und meldet nach Beendigung des Werkes, daß ihm nun „wieder wohler“ sei. Norringtons Programm zeugt von sensiblem Gespür für den Umgang und die Präsentation von Kunstschätzen der Musikgeschichte.

Eine Kirche ist für solche Werke ein durchaus angemessener Ort. Die akustischen Schwierigkeiten im Bremer Dom stellten sich jedoch als enorm werkbeeinträchtigend dar. Zumal, wenn ein nicht geringer Teil des Publikums, wozu auch die Presse zählte, mit den hinteren und gar seitlichen Teil des Domes vorlieb nehmen mußte. Wesentliche Details, die die historische Aufführungspraxis ja gerade zeigt, wie die Ausarbeitung von kleinsten Nuancen und Figuren und die plastische Durchdringung der Partitur bis in die scheinbar geringsten Nebenstimmen, werden von einem 75-Meter Raum gnadenlos geschluckt. Und wenn von den Solisten besonders die Männerstimmen stellenweise überhaupt nicht mehr zu hören sind, droht die Sinnfälligkeit der Aufführung zu zerrinnen. Anders als bei Olympiaden ist bei der Kunst Dabeisein eben nicht alles.

Freilich, Spitzenorchester wie die London Classical Players faszinieren auch noch in den großen Zügen: Wenn in der Schumann-Sinfonie der zweite Teil der Einleitung wie ein erster, verzweifelt abgebrochener Anlauf einer Exposition wirkt, wenn die Klageseufzer der Durchführung kein Ende zu nehmen scheinen und am Schluß durch eine bis dahin aufgesparte enorme dynamische Steigerung die Lust durchscheint, alles zerschmettern zu wollen; wenn Momente beeindrucken wie die wunderbare Stille des kleinen Fugatos im Zentrum des Satzes. Ein völlig anderes Musizieren fordert dann das Stabat Mater. Und wie Norrington es hier verstand, genau die Balance zwischen italienischer Schwelgerei und Ernsthaftigkeit zu wahren, das zeigt dann doch die große Kunst dieses Ensembles. Aber, wie gesagt, das ist nur ein Teil davon.

Ulrich Matyl

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