: DREI TAGE SINTFLUT
■ Max Neumann in der Galerie Nothelfer
Entfalten kann sich da wohl niemand mehr. In Max Neumanns zynisch betiteltem Bild Empfehlung zur Entfaltung sind die Figuren niedergedrückt. Am rechten und linken Bildrand sitzen im Profil zwei mit wäßriger grauer Farbe angedeutete Gestalten, in sich zusammengesunken. Allein ihre fast gesichtslosen Köpfe - nur eine Augenöffnung ist hineingeschnitten - sind mit dicker grüner Farbe gemalt und drücken halslos viel zu schwer auf die schattenhaften Larven der Körper. Die Schädel drohen wie ein Flatschen Hefeteig zu zerfließen und sich bis zur Unkenntlichkeit zu verformen. Auf eine in der Mitte stehende Gestalt stützt sich mit einer menschlichen Hand ein Pferd. Zu schwer, auf jeden Fall zu schwer. Zur Unproportionalität der Gewichte trägt nicht zuletzt die Verteilung der Farbe bei. Während die obere Bildhälfte eingegraut ist, bleibt die untere leer bis auf herablaufende Farbspritzer. Das obere Farbfeld begrenzt eine dicke Linie wie ein durchgebogener Balken. So wird die Empfehlung zur Entfaltung zu einer Erzählung über das Untragbare und Lähmende, das doch nicht materiell zu fassen oder konkret zu benennen ist.
Max Neumann malt in einer Zweiphasentechnik: zuerst kommt die Phase der antrainierten Spontaneität, der Selbstüberlistung, des schnellen Angriffs auf die Leere des Malgrundes und des gottähnlichen Zusammenmischens eines fruchtbaren Urgrunds. Da wird ohne Distanz gearbeitet, ohne vorherige Bildvorstellung die verdünnte Farbe ausgegossen, ihrem Fluß nachgegeben, Balancen zwischen dünnen grauen Nebeln und fetten schwarzen Flecken eingerichtet. Was folgt, erinnert an Bleigießen und die Interpretation der Zufallsformen. Aus den wolkigen oder glatten Farbflächen, aus Strömen und Stockungen der Farbe, beginnt der Maler zu lesen, Formen wiederzuerkennen und mit wenigen Konturen sein figürliches Vokabular hineinzusetzen: Schädel, gekrümmte Körper, Tierleiber, Tische. Die Gestalten bleiben schemenhaft, in ihren Extremitäten beschnitten, passiv, handlungsunfähig, unvollendet. Sie sind verbannt in ein Zwischenstadium, werden nur halb wahrnehmbar und verweigern sich der bewußten Erkenntnis. Gerade diese schattenhafte Existenz erhöht ihren Ausdruck des Leidens.
Der arme Albert gehört zu einer Serie 1989 entstandener Gemälde mit grauweiß gewürfelten Flächen. Sechs rattenartige Tiere bewegen sich auf den Rand des Schachbrettmusters zu, die eine hängt schon drüber, steht eigentlich im Nichts, so wie die Figuren im Zeichentrickfilm bei einem Sprung aus dem 29. Stockwerk zuerst einen Moment in der Luft stehen, bevor es abwärts geht. Doch diese leere Fläche, dieses helle Loch bezeichnet zugleich den Erscheinungsort der Figur, womöglich Alberts, dessen Kopf von einer nebulösen grauen Maske verdeckt wird. „Der arme Albert“ ist ein Bild über das Verschwinden und sich Auflösen. Es erinnert mich an die Momente, wo man vor Peinlichkeit im Boden verschwinden möchte, wo man sich am falschen Ort fühlt, wo einem die eigene Haut zu groß wird. Neumann läßt die Ängste des Selbstverlustes sichtbar werden. Seine Schemen könnten die dünnen Schatten des Subjekts sein, die man überall dort hinterlassen hat, wo man wieder mit unguten Gefühlen aus ungeklärten Situationen geflohen ist. Natürlich sind diese Geschichten immer bloße Projektionen meiner Phantasie - aber wie sonst soll man sich mit diesen Schemen verständigen.
In seinen Zeichnungen auf Packpapier und alten Tüten tauchen neben den grauschwarzen Farben der Bilder grüne und rote Farbstreifen auf: kompakt, dicht, fest, begrenzt, sitzen sie an den Rändern. Sie verleihen den Zeichnungen Gewicht, sie erden die Geister wie eine Antenne, damit sie sich nicht gleich wieder entziehen.
Drei Bilder Ohne Titel, datiert vom 8., 9. und 11. Juli 1989, schildern eine Sintflut. Dreckig fließt die Farbe in parallelen Schraffen von oben, läuft unten zu Klumpen und Matsch auf. Alles ist aus diesem Schwarz gemischt. Am 8. Juli fliegt ein Schirm davon und eine Gestalt versinkt im Schwarz bis an die Hüfte. Am 9. ist das Schwarze schon zu einem Berg bis unter den oberen Bildrand angestiegen; aus dem letzten hellen Fleck schwimmt ein Fisch heran, einen Zweig im Maul. Irgendetwas scheint da mit Noah, seiner Arche und der Taube schiefgegangen, und die Geschichte läßt sich nicht mehr richtig zusammensetzen. Am 11. baumelt neben einem Mann über einem Ast eine Glühbirne - etwas anderes, als sich zu erhängen, scheint in dieser Szenerie nicht mehr möglich.
Neumann erweist sich in dieser Serie als Schnell- und Vielmaler: Jeweils am 8., 9. und 11. Juli vollendete er mindestens ein Bild von ungefähr 190x230 cm Größe. Ich nehme an, daß die Offenbarung der schnellen Entstehung der Bilder durch die Ersetzung des Titels durch die Tagesdaten kein Zufall ist. Seine beschleunigte Bildproduktion entspricht einem industriellen Tempo. Der Maler ist hinter etwas her; die Schatten geben ihm kein Ruhe. Der Boden, über den er geht, ist zu dünn, um sich lange aufzuhalten. Atemlosigkeit schlägt sich in den Bildern nieder. Die dünne Farbe, durch die häufig noch das Papier oder der Nesselstoff durchscheint, suggeriert Flüchtigkeit und Auflösung. Der Trick, die Papierbilder auf Leinwände zu kleben, um sie glatt zu spannen und zu konservieren, widerspricht eigentlich der Verletzbarkeit des Materials: sie müßten flattern, knittern, zerreißbar und vergänglich sein, was für jeden Galeristen zweifellos ein Albtraum wäre.
Für den Erfolg des vierzigjährigen Malers spielte sicher die vor einem Jahrzehnt gepuschte Malerei der „Neuen Wilden“ und „Neuen Figuration“ eine Rolle. Mit seinen Schemen konnte er an der Rückkehr der Figur teilnehmen; zugleich aber setzte er sich genügend von ihnen ab, um eigenes Profil zu gewinnen. Anstelle der mit pastoser und kraftstrotzender Malerei schweren Leinwände stehen seine mit dünner Farbe übergossenen Bilder; statt glühender Farbigkeit setzt er jetzt mehr auf das Graue und Schwarze. Während die „Neuen Wilden“ des alten Kaisers Expressionismus neue Kleider euphorisch und manchmal naiv überzogen, schlich Neumann ihnen mit einem grauen Schleier verhüllt nach. Er geht als der Knochenmann im Zug der „Neuen Figuration“.
Katrin Bettina Müller
Max Neumann: Bilder und Zeichnungen. Bis 24. Februar, Galerie Georg Nothelfer, Di bis Fr 14 bis 18.30 Uhr. Katalog 80 DM.
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