DOKUMENTATION: Ein neuer Marshall-Plan?
■ Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater unter Carter, plädiert dafür, daß sich die USA im Mittleren Osten so verhalten wie in Mitteleuropa nach dem 2. Weltkrieg
Ich glaube immer noch, daß Sanktionen den langfristigen Interessen der USA besser gedient hätten. Der militärische Sieg über Irak war aber einfacher als erwartet. Trotzdem gibt es ein wachsendes, aber vermeidbares Risiko, daß der Krieg als Auslöser für ein geopolitisches Desaster und eine moralische Schmach gehalten werden könnte. In der zunehmend schwierigeren Nachkriegssituation müssen zwei zentrale Fragen gestellt werden: Was ist der Gewinn, was die Last des von den USA angeführten Triumphes? Und was sind die gegenwärtigen wie auch längerfristigen Implikationen dieser US-Politik?
Die Vorteile sind ohne Zweifel beeindruckend. Zum einen wurde eine offene Aggression zurückgeschlagen und bestraft. Damit wurde ein wichtiger politischer und juristischer Sachverhalt internationaler Politik bekräftigt: daß nämlich die internationale Staatengemeinschaft keine Gewalt eines Staates gegen einen anderen duldet. Zweitens wird dadurch die militärische Macht der USA ernster genommen. Und drittens sind der Mittlere Osten und die Golfregion nun eindeutig mehrheitlich amerikanische Einflußsphären: Die proamerikanischen, arabischen Regimes und auch Israel fühlen sich sicherer; der Zugang zum Öl ist für die USA nicht mehr in Gefahr. Viertens schrumpfte der bisherige größte Rivale der USA im Mittleren Osten, die Sowjetunion, zu einem bloßen Beobachter.
Doch es gilt auch negative Konsequenzen zu berücksichtigen. Der erste regionale Profiteur des irakischen Sturzes ist schließlich der Iran, die größte feindliche Macht gegen die USA und die proamerikanischen Satellitenstaaten auf der arabischen Halbinsel. Eine Militärpräsenz der USA ist nun zwingend. Das ist zwar nicht unbedingt schädlich für US-amerikanische Interessen, birgt aber die Gefahr neuer Instabilitäten in sich. Zweitens wird diese Militärpräsenz mit der wachsenden Gefahr der sich im Kontext der Nachkriegszeit intensivierenden ethnischen und religiösen Konflikte in Verbindung gebracht.
Drittens kann die Intensität der Luftangriffe auf den Irak Bedenken Vorschub leisten, die Art und Weise der Kriegsführung belege, daß den Amerikanern arabisches Leben nichts wert sei. Besonders letzteres läßt moralische Fragen aufkommen. Der Öffentlichkeit wurde der Krieg als „gerechter“ präsentiert, der sowohl wegen der Unmoral von Saddam Husseins Taten als auch wegen des Ausmaßes der Bedrohung notwendig war. Saddam wurde als neuer Hitler bezeichnet, der die gesamte Welt bedrohe. Tatsächlich entpuppte er sich eher als neuer Mussolini. Und genau das stellt die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel.
Von US-Seite aus wurde immer wieder betont, Ziel sei nicht die Zerstörung des Irak, der Feind sei Saddam. Dennoch zielten die Luftangriffe auf die Fähigkeit des Iraks, als moderne Gesellschaft zu funktionieren und zu operieren — mit entsprechenden Konsequenzen für unschuldige Menschen. Zu diesem Schluß muß man kommen, liest man den Bericht, den der Vorsitzende der UNO-Sonderkommission, der Finne Marti Ahtissari, seiner Organisation vorlegte. Er belegt die Zerstörung nichtmilitärischer Ziele. 90 Prozent der industriellen Arbeitskraft wurden der Arbeit und des Einkommens beraubt; die Bomben zerstörten Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge, Samen-Silos, so daß die gesamte neue Aussaat in Frage steht. Durch die willkürliche Zerstörung von Kraftwerken und anderen Energiequellen gibt es keine elektrisch betriebenen Installationen mehr, was zu Wasserknappheit führte und zum Konsum verseuchten Wassers. Auch wurden alle modernen Kommunikationssysteme zerstört etc. Die UNO-Mission kommt zu dem Schluß, daß der Bevölkerung eine Katastrophe in Form von Epidemien und Unterernährung droht.
Dieses durch den Krieg produzierte menschliche Elend vermischt sich noch mit den fehlgeschlagenen schiitischen und kurdischen Revolten. Die Aufständischen im Irak verließen sich naiverweise auf amerikanische Unterstützung und ihre Rebellion wurde dann mit massiver Brutalität niedergeschlagen. Die daraus resultierende Flucht der Kurden ließ dann wiederum neues Leid entstehen und die Kurden erfuhren Tod und Entbehrung, wenn ihnen nicht geholfen wird.
All dies ist bei Kalkulationen über Vor- und Nachteile des Krieges von Relevanz. Es wirft die Möglichkeit einer Interpretation auf, daß der Krieg das Ergebnis einer Überreaktion auf einen tatsächlichen Fall von Aggressivität war, nachdem bis dahin auf frühe Zeichen von Agressivität Saddam Husseins unterreagiert worden war.
Diese Überreaktion produzierte jene in der moralischen Terminologie so genannte „disproportionale“ Antwort.
Es ist wichtig, dieses schwierige Thema anzugehen, besonders wenn man die Idee vom „gerechten Krieg“ so nachhaltig betonte und bewußt um der öffentlichen Unterstützung willen auf Churchillsche Rhetorik und Symbole zurückgriff. Tatsache ist doch, daß dieser Krieg nicht mit wenig oder keiner Aussicht auf Erfolg geführt wurde, nicht gegen einen machtvollen Gegner wie es Hitler einer war, sondern die einzige Supermacht der Welt ging gegen ein Dritte-Welt-Land mit zweitklassigen Waffen vor.
Welche Aufgabe sollten die USA nun übernehmen, behält man Moral und Geopolitik im Hinterkopf? Jede Antwort muß anerkennen, daß die USA nun einen noch nie dagewesenen Einfluß auf das Schicksal einer ganzen Region haben. Harry S. Truman erkannte nach dem Zweiten Weltkrieg diese moralische und politische Verantwortung der USA für die Zukunft Europas. Er stellte sich dieser Herausforderung. Daß US-Militärs im Norden des Iraks Camps für die Kurden aufbauen, ist ein richtiger Schritt. Es ist dennoch schwer zu verstehen, warum die US-Truppen ihre südirakischen Stellungen aufgeben, ohne zuallererst von Bagdad eine klare Zusage über eine Änderung des kurdischen Status zu erlangen. Jenseits des sofortigen, teils moralischen, teils politischen Imperativs ist es die Pflicht der USA, drei große Ziele zu verfolgen: einmal ein regionales Sicherheitsabkommen, zweitens die Umverteilung des regionalen Reichtums und ökonomische Kooperation zwischen allen Staaten (inklusive Israel) sowie drittens ernsthafte Schritte hin zu einem arabisch- israelischen Frieden. Um erfolgreich zu sein, muß Washington aber alle drei Punkte gleichzeitig angehen. Es kann keine regionale Sicherheit ohne Fortschritt bei den anderen beiden zentralen Punkten geben.
Präsident Truman erkannte die Herausforderung von Hilfe, Wiederaufbau und Aussöhnung. Die USA haben sich ihr gestellt. Deshalb ist Europa heute sicher und stark. Aus geopolitischen und moralischen Gründen sollte Amerika auch im Mittleren Osten nicht weniger tun.
Aus 'New York Times‘ vom 21.4., Übersetzung: AS
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