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DOKUMENTATIONIch wollte nur nach Hause

■ Ein O-Ton aus dem ersten Jahr der deutschen Einheit

Jakob R. (56), zur Zeit des Gesprächs im Übergangswohnheim Pfeddersheim bei Worms:

Ich stamme aus Nordrhein- Westfalen, habe 1959 ein Mädel kennengelernt — aus der DDR, wir haben uns jahrelang schriftlich unterhalten, die platonische Liebe mag ja schön sein, aber nicht das, was man sich wünscht. Eines Tages bin ich rübergefahren, mit 'nem Köfferchen, und wir haben geheiratet. Die Mutter meiner Frau war schwer krank, pflegebedürftig. Und meine Frau wollte sie nicht im Stich lassen. Mit meinen Eltern war alles geklärt: Sobald die Schwiegermutter stirbt, machen wir sofort zurück. Aber dann kam der 13. August 1961 dazwischen, und ich konnte all meine Träume begraben: Da wurde die Mauer gebaut, und ich mußte mich damit abfinden, nicht mehr nach Hause zu kommen, doch das fiel mir sehr schwer. Und so blieb es auch nicht aus, daß ich wegen Staatsverleumdung belangt wurde: Die ersten zwei Jahre habe ich in Bautzen absitzen müssen. Und ein halbes Jahr später ist mir das gleiche noch einmal passiert. Da gab's wieder zwei Jahre...

Über die vier Jahre Gefängnis ist meine Ehe in die Brüche gegangen, und ich habe dann Antrag um Antrag gestellt zwecks Ausreise, denn ich hatte ja hier noch meine Mutter in Nordrhein-Westfalen zu wohnen und meine Tochter aus erster Ehe. Ich habe insgesamt zirka acht, neun Anträge gestellt, die immer abgelehnt wurden. Ich habe es dann auf illegale Weise probiert und wurde beim versuchten Grenzübertritt in Thüringen, nahe dem Ort Lobenstein, festgenommen. Da konnte ich also Bauzen zum dritten Mal besuchen. Wieder Einheitsmaß zwei Jahre. Ich wurde 1981 entlassen. Habe dann wirklich resigniert, in der Molkerei gearbeitet.

Als sich alles so plötzlich wendete, konnte ich es zunächst gar nicht recht fassen. Das erste, was ich tat, war: Mir einen Stempel in den Ausweis drücken lassen und rüber, nach Hause, in meinen Geburtsort. Den habe ich erst mal überhaupt nicht wiedererkannt, denn es waren ja 30 Jahre vergangen. Mein Vater war in der Zwischenzeit gestorben, meine Tochter wohnt heute noch im Haushalt meiner Mutter. Von der Mutter wurde ich zwar herzlich begrüßt, aber mit meiner Tochter konnte ich zu keinerlei Einvernehmen kommen. Ich war also für zwei Wochen auf Besuch da, und dann hat meine Tochter, als ich den Wunsch äußerte, dazubleiben, mich auf schnellstem Wege ins nächste Aufnahmelager verfrachtet. Das war in Unalassen, in Westfalen, und wegen Überfüllung bin ich dann hierher gekommen, nach Osthofen, später nach Pfeddersheim bei Worms.

Seitdem — ich kann nicht sagen wohne, sondern lebe ich hier... Eigentlich wollte ich immer nur nach Hause, in mein elterliches Haus. Ich habe immerzu davon geträumt. Ich hatte ja nie die Absicht, mein ganzes Leben in der DDR zu verbringen — der Mauerbau hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht, die Schwiegermutter ist 1964 gestorben... Ich wurde nicht gefragt, ob ich die Staatsbürgerschaft annehmen will, sondern hinbestellt, nach einem halben Jahr, zum Rat der Stadt, und dann ganz feierlich beglückwünscht zum DDR-Bürger, mußte den alten Ausweis abgeben und erhielt einen neuen. Das alles war in eine „feierliche Form“ gekleidet. Man sollte sich ja dementsprechend fühlen.

Ich hatte auch im Betrieb Schwierigkeiten, denn ich bin in keiner Gesellschaft Mitglied geworden, ich habe die Gewerkschaft abgelehnt, die deutsch-sowjetische Freundschaft — also war ich kein „guter Mensch“ in den Augen der Leute, die damals das Sagen hatten. Ich nahm kein Blatt vor den Mund, war es gewöhnt, immer laut und für meinen Gesprächspartner verständlich zu sprechen, und das war dort völlig fehl am Platze, und so habe ich mir meine zweite „Staatsverleumdung“ in der Gaststätte eingehandelt. Was ich erzählte, bekam einer am Nebentisch mit, und das hat gelangt zum „Mitkommen zwecks Klärung eines Sachverhalts...“ Der dauerte zwei Jahre. Das andere Mal war in meinem Betrieb gewesen. Hätte ich das alles gewußt, damals, ich wäre nicht gefahren — also bei aller Liebe... Meine Chancen, hier heute Arbeit zu finden, sind gleich null...

Ich habe ganze 30 Jahre meines Lebens verloren, denn eigentlich wollte ich nur nach Hause. Meine Tochter ist da allerdings anderer Ansicht, sie arbeitet als Behördenangestellte in der Kreisverwaltung. Ihr geht's gut, sie kann sich nicht in meine Lage hineindenken, und ich war für sie ein Fremder, als ich nun 1989 auf einmal dort auftauchte. Mein Heimatort ist heute eingemeindet in Euskirchen. Ein Dorf. Vielleicht hat sich meine Tochter geschämt — alle meine Alterskollegen, die ja nie weggewesen sind, haben inzwischen Häuser gebaut, da sind in der Familie zwei, drei Autos, und ich — praktisch mit Köfferchen — wie ein Flüchtling, ein Heimatloser. Vielleicht auch, weil sie die Position in der Kreisverwaltung hat, ich weiß es nicht — außerdem waren wir uns natürlich fremd geworden über die 30 Jahre, kein direkter Kontakt. Auf der einen Seite kann ich sie verstehen, zum anderen stößt es mir bitter auf — ich hatte ja nie einen anderen Wunsch gehabt, als nach Hause zu kommen...

Ich hab' das alles angegeben, damals im Aufnahmelager. Das einzige, was ich davon profitierte, war, daß ich im Unterschied zu den anderen, die alle 200 Mark Überbrückungsgeld bekamen, gar nichts bekam — weil ich ja, wie mir gesagt wurde, aus der alten Bundesrepublik stamme. Ich wurde von Westfalen hierher transportiert und hatte nicht einen Pfennig Geld in der Tasche. Die anderen bekamen immerhin die 200 Mark — ich wurde dafür bestraft, daß ich in der Bundesrepublik gelebt und auch hier geboren bin.

Am 15. Mai vergangenen Jahres wurde dieses Heim von der Bundeswehr dem Roten Kreuz zur Verfügung gestellt — für drei Jahre. Ich war einer der ersten, die hier einzogen. Und nun hat mir der Heimleiter vor einiger Zeit gesagt, daß ich raus muß und mich um eine Wohnung kümmern soll. Ich habe schon vorher alle Möglichkeiten ausgeschöpft, einschließlich Wohnungsamt, alle Bekannten alarmiert, die ich hier jetzt hab' in Pfeddersheim. Die suchen für mich, ich suche selber — für mich genügt ja ein Zimmer mit Kochgelegenheit oder Mitbenutzung. Bis jetzt war ich völlig erfolglos. Ich bekomme 960 Mark Arbeitslosengeld, und damit kann ich auf dem Wohnungsmarkt keine großen Sprünge machen.

Indes kann der Leiter von diesem Übergangswohnheim hier mit einem ehemaligen DDR-Bürger, der hier schon Monate lang sitzt, keine Lorbeeren ernten — für ihn zählen jetzt nur Sowjetdeutsche — damit kann er glänzen. Und wir, mein Zimmerkollege und ich, sind ihm ein Dorn im Auge. Deshalb auch die Kündigung. In der schreibt er: „Wir sind der Meinung, daß es Ihnen zuzumuten ist, sich um entsprechenden Wohnraum zu bemühen, und kündigen Ihnen hiermit zum 31.10.“ Das hieße mit anderen Worten, ich könnte ab 1. November unter der Autobahnbrücke schlafen. Ich zahle für das Bett 162 Mark, mein Zimmerkollege das gleiche, vordem waren wir zu dritt. Sind alle drei Betten belegt, kassiert das Rote Kreuz knappe 500 Mark für das Zimmer. Aber es ist allemal besser als auf der Straße zu schlafen.

Der Heimleiter drohte inzwischen mit Räumungsklage. Er hat mir am letzten Montag angekündigt, wenn die Räumungsklage durchkommt, würde ich in ein Obdachlosenasyl überwiesen, wo 30 Mann in einem Raum sind. Meinem Nachbarn aus Rumänien hat er dasselbe angekündigt — wenn er sich nicht bald um Wohnraum bemüht, dann... — der Mann hat drei Kinder und keine Arbeit. Wovon soll er angemessenen Wohnraum für seine Familie bezahlen? Ich weiß nicht, ob ich gegen eine Räumungsklage Einspruch erheben kann, ich bin da noch nicht so informiert über den Rechtsweg.

Wenn alle Stricke reißen, muß ich zur Polizei gehen und das Kündigungsschreiben vorlegen, sonst weiß ich nicht weiter...

Aufgeschrieben von Dietmar Hochmuth, dessen Fernsehreportage „In der Fremde zu Hause“, die auch vom Schicksal des Jakob R. handelt, am 17. November auf 3sat zu sehen war.

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