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DOKUMENTATIONFunky Town

■ Warum sind Dick und Jane verrückt vor Angst?

Die small towns Nordamerikas sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Während Städte wie New York, Los Angeles und Miami seit einiger Zeit eigentlich Dritte-Welt-Hauptstädte sind, spiegeln jetzt auch Tausende kleiner Orte diesen neuen Nationalcharakter. Der gesamte Einfluß unseres national subventionierten Highway-Programms, der einst so mächtigen Autoindustrie und der neuen multikulturellen Mixtur haben unsere small towns in etwas Fremdartiges und Wundervolles zugleich verwandelt.

Seltsamerweise sind die Fotografen, ich selbst eingeschlossen, bisher ihrer Pflicht, die Antennen der Gesellschaft zu sein, nicht nachgekommen (eine sicherlich zweifelhafte Pflicht). Anstatt uns dieser neuen Wirklichkeit zu stellen, klammern sich viele von uns an eine ältere, fast nostalgische Sicht der small towns oder der städtischen small towns — die Ghettos. Einige wenige zeitgenössische Aufnahmen zeigen die Entfremdung und Angst angesichts dessen, was aus diesen Orten geworden ist und worauf sie zusteuern. Ein Gefühl der Bedrohung durchdringt diese Bilder. Etwas Scheußliches wird hier geschehen. Bald. Thornton Wilder ist Stephen King geworden.

Aber vielleicht ist nicht alles schlecht. Vielleicht vieles von dem, was geschehen ist und geschieht, Anlaß zum Feiern und nicht zur Furcht. Ich meine, warum fürchten wir uns so vor der multikulturellen Bestie? Wo ist das Problem? Wir sehen uns mit einer Chance zur Wiederbelebung konfrontiert, gerade in dem Moment, in dem das Land auseinanderzufallen droht. Zwar wird unser neues Befinden keine Lösung für unser wirtschaftliches Elend sein — wir haben ein zu tiefes Loch gegraben, als daß wir hoffen könnten, so einfach wieder herauszukkommen —, aber es könnte zumindest den Künsten und dem Geist Lebenszeichen entlocken.

Die europäisch-amerikanische kapitalistische Billigkultur hat die Welt mindestens so sehr kolonialisiert, wie es die Kolonialmächte des neunzehnten Jahrhunderts taten, aber auf eine andere Weise. Heute werden die Kolonisierten wieder willkommen geheißen, bekommen Mindestlohn und sind dazu übergegangen, die Kolonialherren zu kolonialisieren. Ich bin nicht sicher, ob Nationen wirklich wissen, was sie tun, wenn sie ihre Tore öffnen für angeblich billige Arbeitskräfte. Was als wirtschaftliche Ausbeutung beginnt, endet als fairer kultureller Austausch. Man kann nicht jemanden verarschen, ohne selbst verarscht zu werden.

Hier sehen wir also, wie sich dieser schäumende Reichtum der großen städtischen Zentren auf jedes letzte Kaff und jeden Truck-Stop ausbreitet. Es ist ein Reichtum, den man schmecken und riechen kann — im Essen, in der Musik, der Art zu tanzen, der Bildkultur und der Dichtung. Es ist eine funky culture. Auf gar keinen Fall kann man sie unverdorben nennen. Es ist eine schmutzige Mixtur. Aber Reinheit ist sowieso ein abstrakter Begriff. Sie existierte niemals wirklich. Die Speise, die wir vor uns haben, ist sehr viel schärfer gewürzt.

Die großen Städte der Welt, und was sie hervorbrachten, waren das Ergebnis solch gottloser Mischungen. Rom, Athen, Venedig, Bahia, New Orleans, Budapest, Paris, Istanbul, Accra. Immer so weiter. Jeder Kontakt mit dem anderen führt zu einer erregenden Ansteckung. Die Verwirrung und das Chaos sind Teil der Dynamik. Genverknüpfung auf globaler Ebene.

Wir befinden uns an einem kritischen Punkt. Unsere nationalen Ressourcen erschöpfen sich, unser altes Selbstbild stimmt nicht mit dem überein, was wir im Spiegel sehen, unsere Wirtschaft ist wacklig, und unser Status unter den Nationen ist fragwürdig. Und doch besitzen wir die Samen kultureller Wiedergeburt und Verjüngung... wenn wir flexibel und kühl genug sind, eine neue Definition unserer selbst zu akzeptieren. Wir können mit dem Schiff untergehen, stolz zur Flagge salutierend und den Treueeid zitierend, oder wir können auf den Dampfer steigen, der wer weiß wohin steuert. Unsere Situation ist, glaube ich, einmalig. Früher beschränkte sich diese Spannung auf die städtischen Zentren; heute, nicht zuletzt dank des Autos, ist das ganze Land infiziert. Ein halber Kontinent! Jedes kleine Städtchen, jedes Dorf. Dick und Jane sind verrückt vor Angst. Laßt euch mit dem Strom treiben, Kinder.

In gewisser Weise lebt die amerikanische Nation am Rande des Abgrunds. Ein zärtlicher und zorniger Abschied von einem Traum, der nie Wirklichkeit wurde. Eine Unzahl von ghettoisierten Kulturen, die im Begriff sind, aufeinander loszugehen. Bilder eines chemischen Experiments kurz vor der Reaktion. Alle richtigen Elemente sind vorhanden, aber es gibt keinen Vorläufer für die Substanz, die sie bilden werden. Es ist eine neue Ursuppe. Uns allen viel Glück, Amigos. David Byrne

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