DIN, Normen und Nummerierungen: Lob des Standards
Dem bürgerlichen Wahn der Sortenvielfalt täte mehr Jakobinisierung gut. Qualität statt neuer Verpackungsoberflächen ist vonnöten.
Gott hat alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet, aber manchmal gerät es durcheinander. Dann müssen Ingenieure wieder Ordnung in die Welt bringen, indem sie Standards, Normen und Nummerierungen einführen. Die archetypische Seriennummer lautet 08/15.
Sie geht zurück auf das vom Deutschen Reich im Ersten Weltkrieg eingesetzte Maschinengewehr MG 08/15, eine Waffe, die auf dem Entwurf des ersten vollautomatischen Maschinengewehrs des amerikanisch-britischen Konstrukteurs Hiram Maxim beruhte. Die Bezeichnung 08/15 setzt sich zusammen aus dem Modell und der Modellvariante, die nach dem Jahr ihres Erscheinens bezeichnet ist, also 1915.
Die nach dem Baukastenprinzip aus vollständig standardisierten und austauschbaren Teilen hergestellte Waffe ist eng verknüpft mit der Entstehung der DIN-Normen. So erhielt ein im Verschluss des Gewehrs verwendeter Kegelstift im Jahr 1918 vom Normenausschuss der deutschen Industrie (dem Vorläufer des Deutschen Instituts für Normung) die erste vergebene DIN-Norm, die DIN 1.
Das MG 08/15 avancierte zum sprichwörtlichen Sinnbild für Standardisierung überhaupt, für das Gewöhnliche und Durchschnittliche der industriellen Massenproduktion. Damit begann eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte deutschen Ingenieurgrößenwahns. Heute gibt es sogar eine DIN-Norm für das „Bilden, Erteilen, Verwalten und Anwenden von Nummern“ in Bezug auf Gegenstände, Sachverhalte oder auch Personen. Sie trägt die Nummer 6763.
Dennoch ist Standardisierung in weiten Kreisen der Bevölkerung schlecht beleumundet, was sich allein daran zeigt, dass der Chiffre 08/15 im alltäglichen Sprachgebrauch stets etwas Pejoratives anhaftet. Sofort stellen sich Bilder von grauen Männern in Brüssel ein, die den Krümmungsgrad der Banane mit Zirkel und Winkelmaß festlegen und mit ihrer Regelungswut lokalen Spezialitäten wie dem Wüschwitzer Milbenkäse oder schrumpeligen autochthonen Apfelsorten den Garaus machen wollen.
Käse, Käse, Käse, Käse, Käse
Da kommt der anarcho-libertäre Spießer vom Schlage Max Stirner, Ayn Rand oder Sarah Palin in uns zum Vorschein. Dahinter liegt ein großes Narrativ, das davon handelt, dass der Erfolg abendländischer Industrienationen und Schwellenländer auf der voranschreitenden Ausdifferenzierung und individuellen Entfaltung seiner Insassen beruht, während Rückständigkeit und Scheitern der sozialistischen Länder im Wesentlichen auf mangelnde Auswahl von Waren und Lebensstilen zurückzuführen sei.
Wer ein Gefühl dafür bekommen möchte, wie sich dieser Gap anfühlt, möge den Outtake aus dem Borat-Film „That’s also Cheese?” auf Youtube anschauen. Darin schreitet Sasha Baron Cohen in der Gestalt des Kasachen ein meterlanges Kühlregal ab und nervt eine beflissene Servicekraft mit der Frage, ob es sich beim nächsten Convenience-Produkt denn auch und immer noch um Käse handele.
Wir könnten uns anstrengen und was Großes werden. Wir könnten aber auch liegen bleiben. Zum achten Monat in diesem 15. Jahr des neuen Jahrtausends eine 08/15-Ausgabe, in der taz.am wochenende vom 22./23. August 2015. Mit viel Liebe zum Mittelmaß. Wir treffen eine Frau, die „Erika Mustermann“ heißt. Wir reden mit einem Statistiker über Durchschnitt. Und lernen, warum genormte Dinge wie Plastikbecher uns im Alltag helfen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Vielleicht haben wir es im Westen tatsächlich zu weit getrieben mit der Auffächerung der Sortimentstiefe, der Bewirtschaftung des Long-Tails, wodurch jede und jegliche Mikrozielgruppe mit einer eigenen Produktlinie bedacht wird. „Brand Stretching” heißt diese Ellenbogenstrategie im blutigen Wettkampf um Regalmeter im Supermarkt. Schon reagieren Konsumenten auf den „Choice Overload” mit „Consumer’s Fatigue”. „Variety Seeking”, die Lust an der Warenfielfalt, verliert ihren Reiz, wenn man permanent das Gefühl hat, aus einem Feuerwehrschlauch trinken zu müssen.
Die Statustretmühle des Sich-interessant-Machens durch elaborierten Geschmack und raffinierten Konsum wird schwergängiger und spuckt immer weniger Belohnung aus. Vielleicht tritt das originär bürgerliche Programm des Individualismus – zusammen mit der bürgerlichen „Privacy” – gerade in ein Spätstadium ein.
„Frieden ist, wenn alle gleich sind”, singt die Hamburger Band Kettcar. Das ist mit einer Prise geräuchertem Himalayasalz zu nehmen, aber es ist schon etwas dran. Wie Michel Houellebecq, der immer wieder große Wahrheiten gelassen anzweifelt, in „Karte und Gebiet” schreibt: „Innerhalb staatenbildender Arten ist die Individualität nur eine kurz anhaltende Fiktion.”
Die Downside der Individualität erleben wir täglich, wenn wir versuchen, unser Android-Mobiltelefon im Kreise von Apple-Adepten aufzuladen. Auf globalökonomischer Ebene sieht man heute deutlich, dass das Abrücken vom Goldstandard des Bretton-Woods-Systems nicht unbedingt die beste Idee war. Können wir uns vorstellen, was passiert, wenn alle raffiniert auf psychologische Manipulation hin designten Verpackungen durch ein einheitliches Mehrweggefäßsystem für Stück und Streugut ersetzt wird, wie es bei den Getränkeflaschen ansatzweise funktioniert?
Mittel gegen den Wildwuchs
Der Markenwettbewerb würde sich weg von der Verpackungsoberfläche hin zu einer Qualitätskonkurrenz der Inhalte verlagern. Die Idee, dass sich Wohlfahrtszuwächse durch Standardisierung erzielen lassen, geht zurück auf die Jakobiner, die im kurzen Sommer der Revolution nicht nur Adelige geköpft, sondern auch massiv Standards in die Welt gestemmt haben.
Ihnen verdanken wir das metrische System, das den europäischen Wildwuchs der Längenmaße bis heute vereinheitlicht, und das darauf basierende Urkilo. Allein mit der Umstellung der Urzeit auf das Dezimalsystem sind sie gescheitert.
Dieses unfertige Projekt wurde zuletzt von Rafael Horzon, Ingo Niermann und Paul Snowden weitergeführt, die 2006 mit der dezidiert nicht künstlerisch gemeinten Initiative REDESIGNDEUTSCHLAND die Standardisierung von allem und jedem propagierten. Neben der Umstellung der Zeitrechnung sollte Deutsch mit einheitlichen Regeln ohne Ausnahmen vereinfacht werden.
Die Vorteile für den Standort Deutschland liegen auf der Hand: „rededeutsch erlernbar sein ohne vorkenntniss in wenig stunds.“ Vielleicht ist heute die Zeit reif, ein paar der Ideen von den Jakobinern bis REDESIGNDEUTSCHLAND zur Wiedervorlage zu bringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“