DIE WAHRHEIT: Im Jahr des Hasen
Wann platzt der Klangkokon? Das äußere Erscheinungsbild Chinas gleicht sich immer mehr dem der Länder des Westens an...
... Angesichts dieser Tatsache kommt unter Chinafreaks immer mal wieder die Frage auf, ob sich denn die Chinesen auch innerlich den Westlern anpassen werden oder ob sie sich nicht doch künftig einen irgendwie ursprünglich chinesischen Gewohnheitskern bewahren könnten? Die Meinungen darüber gehen auseinander. Betrachtet man allerdings die Entwicklung auf dem Krachsektor, dürfte die Antwort nicht schwerfallen.
Traditionell sind die Chinesen völlig geräuschunempfindlich. Das beweisen sie jedes Jahr wieder anlässlich der Feierlichkeiten zum Chinesischen Neuen Jahr. Da werden Hiroschimabomben direkt neben Tai-Chi-Treibenden gezündet, die sich im Zeitlupentempo ungerührt weiterbewegen, und Säuglinge lächeln selig, wenn in den Straßen Kakofoniker auf Stalinorgelimitaten ihre Krachpartituren herunterspielen. Doch auch den Rest des Jahres macht den Chinesen ein gepflegter Lärm nichts aus. Ich sah hier schon Leute direkt neben Bohrmaschinen und Presslufthämmern schlafen.
Kurz vor Weihnachten besuchte ich dann den McDonalds bei uns um die Ecke. Hier lief in voller Lautstärke eine getragene Version von "Jingle Bells" - in einer Endlosschleife. Der furchtbare Sänger begann immer wieder mit "Dashing through the snow / In a one horse open sleigh" - so lange, bis ich mein doppeltes Cheeseburger-Menü zusammenpackte und hinausstürzte. Von meinen chinesischen Mitbürgern um mich herum dagegen muckste sich keiner. Ich war mir sicher, dass sie den sich wiederholenden Albtraum noch nicht mal hörten.
Immer noch scheinen Chinesen in einem eigenen Klangkokon eingesponnen zu sein, der verhindert, dass unerwünschte Geräusche wahrgenommen werden. Langsam aber scheint sich dieser Schutzmantel aufzulösen. So wurde anlässlich der diesjährigen Neujahrsfestivitäten in Peking signifikant weniger geballert als in den Jahren zuvor. Das, was einem die Trommelfelle klingeln ließ, war nicht mehr Stalingrad, sondern allenfalls die Erstürmung der Düppeler Schanzen. Und dann las ich im letzten Monat die unfassbare Meldung in der Zeitung, dass die Bewohner einer Wohnanlage im südlichen Pekinger Distrikt Daxing gegen den Betrieb der neuen U-Bahn demonstriert hatten, wegen Lärms: "Ich kann so lang nicht schlafen, bis der letzte Zug durchgefahren ist", beschwerte sich Anwohner Wang Jinan bei der Global Times. "Und ich wache durch den Lärm des ersten Zugs am Morgen auf."
Ich glaube, diese zwei Sätze beweisen, dass sich die Chinesen langsam auch sensorisch den Westlern angleichen. Ich hoffe nur, dieser Prozess schreitet etwas schneller voran. Seit Wochen werden nun in meiner Nachbarwohnung zu Renovierungszwecken mehrere Bohrmaschinen betrieben, und zwar immer dann, wenn ich mich gerade an den Schreibtisch setze. Meine offenbar noch nicht verwestlichten chinesischen Nachbarn stört das wenig. Doch wenn das nicht sofort aufhört, werde ich … aaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhh!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich