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DIE WAHRHEITVergessene Züge

Die Bahn stimmt ihre Kunden schon jetzt auf das bevorstehende und sehr reizvolle Winterchaos ein.

Anfang September bereitete die Deutsche Bahn die Kunden schon einmal auf den kommenden Winter vor. Freimütig bekannte Bahnchef Grube, dass in der kalten Jahreszeit mit Zugausfällen zu rechnen sei. Die Vorfreude bei den Bahnkunden ist seitdem groß - sind doch Verspätungen, defekte Toiletten und streikende Klimaanlagen das Salz in der Suppe des öffentlichen Nahverkehrs.

Die einschläfernde Routine pünktlich fahrender Züge hingegen bezeichnen Experten als Gift im Gemütshaushalt der Spaßgesellschaft. Für sie geben besondere Vorkommnisse und überraschende Wendungen rund um den schienengebundenen Personentransport dem langweiligen Alltag des Berufspendlers erst die richtige Würze.

Wer jetzt aber glaubt, die Bahn habe mit der Ankündigung winterlicher Unbill ihr Pulver schon verschossen, wurde am 8. September auf der Fahrt von München nach Kochel eines Besseren belehrt. Nach dem Umsteigen in Tutzing beglückte die Bahn ihre Kunden mit einer neuen Variante aus der Serie "beliebte Reiseüberraschungen".

Um 13.10 Uhr sollte der Zug von Gleis 1 Süd in Richtung Kochel abfahren, doch nichts geschah. Eine merkwürdige Stille herrschte in dem Triebwagen, die Fahrgäste lasen Zeitung, spielten mit ihren Handys, starrten gedankenverloren aus dem Fenster. 13.20 Uhr - noch immer rührte sich nichts. Ein Blick vom Bahnsteig in den Führerstand verriet, warum: Wir hatten keinen Lokführer an Bord. Und es kam auch keiner, genauso wenig wie eine Durchsage.

Was war hier los? Waren wir in das Sommerloch der Bahn geraten? Wurde hier der winterliche Ernstfall geprobt? Nach 20 Minuten konnte eine Mitreisende telefonisch Kontakt mit der Bahn aufnehmen - ihr wurde mitgeteilt, dass uns der Fahrer des aus Kochel eintreffenden Gegenzuges übernehmen würde.

Da der Berichterstatter weder Lust noch Zeit hatte, die Fahrt unter diesen völlig unklaren Bedingungen fortzusetzen, verpasste er ein womöglich interessantes Reiseerlebnis - dafür hatte er aber ein überaus lohnendes Recherchethema gefunden. Wie viele führerlose Züge gibt es in Deutschland? Wie oft kommt es vor, dass ein Triebfahrzeugführer nicht zum Dienst antritt beziehungsweise seinen Führerstand fluchtartig verlässt? Wenn wir uns das geschilderte Szenario etwa im zukünftigen Untergrundbahnhof Stuttgart 21 vorstellen, wird klar, dass dort vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten für den Einsatz von führerlosen Zügen denkbar sind.

Zunächst aber interessierte uns, wie der mündige Kunde auf diese Entschleunigung der bahninternen Betriebsabläufe reagiert. Einen ersten Hinweis gibt uns Heribert Hotzenbrink, ein arbeitsloser Elektriker, den wir am Bahnhof von Angermünde treffen. Der 56-Jährige sitzt seit zwei Wochen hier und wartet auf seinen Anschlusszug nach Schwedt.

Er hat es sich auf einer Bank gemütlich gemacht und sieht der Weiterfahrt mittlerweile gelassen entgegen. "Anfangs sah ich immer ganz gespannt, ob ein Zug bereitgestellt wird. Als aber eine ganze Zeit lang nichts passierte, gewöhnte ich mich allmählich daran. Und mittlerweile finde ich es ganz super von der Bahn, dass sie mit diesen Zugausfällen ein bisschen Hektik aus dem Alltag nimmt. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht mehr so genau, was ich in Schwedt eigentlich wollte - hier in Angermünde gefällt es mir nämlich richtig gut", sprichts und nimmt einen tiefen Schluck aus der Bierflasche, die er sich im nahe gelegenen Getränkemarkt geholt hat.

So wie Heribert Hotzenbrink gibt es viele gestrandete Reisende an den Nebenstrecken der Republik, die nach anfänglichem Hadern ihren Frieden mit der Deutschen Bahn AG gemacht haben. Zum Beispiel Manfred Schrob, der vor drei Tagen erfolglos versuchte, von Remagen nach Ahrbrück zu gelangen, und inzwischen die unverhoffte Auszeit sehr genießt. "Als der bereitgestellte Zug nicht abfuhr, weil der Lokführer kurzfristig einen Zahnarzttermin bekommen und fünf Minuten vor der fahrplanmäßigen Abfahrt den Führerstand verlassen hatte, habe ich noch die Bahnführung verflucht.

Aber mit der Zeit fiel der ganze Stress von mir ab und jetzt bin ich den hohen Herren in der Frankfurter Bahnzentrale sogar dankbar, dass sie mit ihrer Politik der Entschleunigung etwas gegen den Tempowahn unserer Gesellschaft unternehmen. Danke, Herr Grube!"

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