DIE WAHRHEIT: Vom Wogen zum Schweigen
Dieser Kasten bietet sich manchmal an als Ankerplatz im reißenden, rauschenden, rasenden Strom der Informations- und Wissensflut.
D ieser Kasten bietet sich manchmal an als Ankerplatz im reißenden, rauschenden, rasenden Strom der Informations- und Wissensflut, selbst wenn die wässrige Metapher längst abgedroschen wirkte. Anstatt in das tösende Gewoge zu tauchen, meditieren wir.
Wir meditieren trotz einer Bemerkung, die neulich jemand in Wien ungefähr so fallen ließ: „Je näher man ein Wort anschaut, desto ferner schaut es zurück.“ Meditieren wir über ein unscheinbares Wort, genauer gesagt, ein Verb. Wir atmen ein das vornehme Verb „sich entsinnen“, atmen es aus und wieder ein. Und bald grübelt der Laie.
Die Vorsilbe nämlich, dieses ent-, meint doch „von etwas weg“, „zum Gegenteil hin“. Reihen wir einige Beispiele dafür planlos aneinander: enträtseln, entehren, enthaupten, entfesseln, entrosten. Entsinnt man sich, erinnert man sich aber an etwas dank der Sinne, ruft etwas auf, man wird nicht etwa der Sinne beraubt.
Doch, doch. Von der Fachwelt werden beide Bedeutungen genehmigt, wie etwa im Wörterbuch der Gebrüder Grimm. Darin wird zunächst Immanuel Kant zitiert: „Man müßte, wenn jemand glaubt, etwas im Gedächtnis zu haben, aber es nicht zum Bewusstsein bringen kann, sagen: er könne ’es nicht entsinnen‘, nicht ’sich entsinnen‘“.
Doch die Redaktion des Wörterbuch-Klassikers belehrt den großen Philosophen: „hier übersieht Kant die zulässigkeit entgegengesetzter bedeutungen für dasselbe wort.“ Zum einen erinnert die Korrektur an das geflügelte Wort „Hier irrt Goethe!“, andererseits an ein Schnipsel von Tucholsky: „Alles ist richtig, auch das Gegenteil. Nur ’zwar – aber‘, das ist nie richtig.“
Breitet sich nun die angepeilte besinnliche Ruhe aus? Ist die meditative Versenkung gelungen oder – hö, hö – das Schiff versenkt? Wagen wir eine weitere beschauliche Sprachbetrachtung, diesmal eine von grammatischer Provenienz, die L., eine kürzlich zugezogene Büronachbarin, seit dem Abbruch ihres Linguistik-Studiums geradezu traumatisch beschäftigt.
Die Sätze „Ich traue mir nicht“ und „ich traue mich nicht“ wählte sie für die Demonstration aus. Die Sätze sagen nicht dasselbe, meinte sie, wenngleich nur der Dativ von „ich“ in den Akkusativ wechselt, die zwei Fälle, die die berlinische Mundart ja bekanntlich kaum voneinander trennt, wa? Überdies verschwimmen in der dritten Person, o je, die beiden Satzstummel: „Sie traut sich nicht“, so oder so.
Schöpfen wir Atem und probieren: „trauen“ mit Dativ bedeutet, man schenkt Glauben, Vertrauen; „sich trauen“ bedeutet eventuell das Gleiche bzw.: „etwas wagen“. Und by the way: Die kitschigsten Hochzeitsanzeigen spielen mit dieser direkten Verwandtschaft.
Bevor ich meinen holprigen Diskurs mit „Ich stelle mir vor“ vs. „Ich stelle mich vor“ weiterspann, murmelte L. so etwas wie „Klugscheißer“. Was mich dazu verleitete, zum Abschluss einen draufzusetzen: „Traust du dir nicht, nämlich über den Weg, dann traust du dich nicht, etwas zu riskieren.“ Seitdem schweigt sie sich aus, womöglich zu Recht.
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