DIE WAHRHEIT: Jenseits von Eden
Ein großartiges Buch, ein herzzerreißendes Sittenbild.
Um es gleich vorwegzusagen: „Jenseits des Protokolls“ von Bettina Wulff ist ein großartiges Buch geworden, eine lässig aus dem Handgelenk dahingeworfene, formvollendete Kriegserklärung an jedwede bis dato dagewesene Form von Literatur.
Dostojewski, Goethe, Kümmerling – sie alle dürften nunmehr in ohnmächtiger Scham winselnd in den Gräbern rotieren, und zwar auf höchster Quirlstufe. Wie das Gekleckse eines tollwütigen Grundschülers machen sich ihre von einer korrupten Claque zu Unrecht hochgejubelten Schundwerke aus.
In spiralförmig ausholenden, supereleganten Schwüngen malt Bettina Wulff ein herzzerreißendes Sittenbild von der Zeit der Neandertaler bis morgen, kämpft für die Frau, das Kind, den Kolkraben. Die oszillierenden Miniaturen, aus denen dieses Mosaik der Menschwerdung sich quasi selber webt, greifen wie ein Rädchen ins andere und erzeugen beim Leser einen beständig sanften Summton, der ihn bis zum letzten Buchstaben (ein N) nicht mehr verlässt, ein Tinnitus der Weisheit.
Die Schlüsselszene bereits im dritten Kapitel, in dem Corporal Rupert MacKinsey einen gefangenen Knaben nach Fort Fife bringen soll, doch die Pferde scheuen vor einem Nest Klapperschlangen und die Kutsche stürzt um. „Batsch“, schreibt Wulff so treffend wie knapp. In der folgenden Nacht erscheint den Sterbenden das Christkind. Packender und authentischer geht es im Grunde nicht.
Und dann, im darauf folgenden Kapitel auf einmal der völlige Bruch, subtil kenntlich gemacht durch die Wahl einer anderen Papiersorte, einer anderen Schrifttype, eines anderen Buches gar: Die lang ersehnte Abrechnung mit ihrer Vergangenheit als Prostituierte, genauer, mit all jenen, die ihr eine solche Vergangenheit nachsagen. Hier gibt sie uns die glasklare Antwort: „Nein.“ Offenbar ist an den Gerüchten nichts dran, sie scheinen falsch zu sein, es stimmt wohl nicht.
Doch das ist nicht die einzige große Überraschung, die das Buch bereithält. Abnehmen durch Abtreibung, Regieren durch Tarot und Ringelpietz mit Anfassen – kein heißes Eisen, mit dem hier nicht traumhaft jongliert wird. Nur von Prostitution ist im weiteren Verlauf nicht mehr die Rede. Das irritiert fast ein bisschen, doch es irritiert auf wunderbare Weise, so wie ein durstiger Wanderer nach langem Marsch durch die Wüste auf einmal vom Anblick eines kristallklaren Wasserfalls irritiert wird.
Wenngleich es auch Absicht ist, ein fantastischer Kunstgriff, um die Spannung und das intellektuelle Niveau hochzuhalten: Aus Lesersicht bleibt leider im Unklaren, was die Autorin eigentlich gegen Prostitution hat, ein, gemessen an den physischen und seelischen Anforderungen in Relation zum Gehalt, schließlich um Längen ehrbareres Handwerk als das Amt der Bundespräsidentengattin.
Das sehen laut den letzten Umfrageergebnissen auch 82 Prozent der Bundesbürger so. Vage Andeutungen, in denen am Rande auch ein Raumschiff mit sprechenden Penissen, die kanariengelbe Wehrmachtshelme tragen, sowie das Rezept für eine Spinatquiche eine Rolle spielen, legen nahe, dass eine prostituierte Spielkameradin ihr im hannoverschen Sandkasten höhnend einst das Schäufelchen zerbrach.
Andeutungen nur, die immerhin ein Hinweis darauf sein könnten, warum das Leben der kleinen Bettina für die folgenden 30 Jahre kurzzeitig aus der Bahn geriet.
Doch sie macht es sich nicht leicht, sucht nicht nach billigen Ausflüchten und Erklärungen für ihr Dilemma: Ein viel zu kleiner Bungalow mit einem viel zu kleinen Swimmingpool in einer viel zu kleinen Welt für einen großen Kopf wie sie. Wem nicht spätestens an dieser Stelle (erstes Kapitel) mit Wucht die Tränen kommen, hat auch bei „La vita è bella“ nicht gelacht.
Warum Wulff bereits vor Erscheinen des Buches in diesem Ausmaß mit Häme und Dreck überzogen wurde, ist selbst mit Hilfe tiefenpsychologischer Ansätze kaum zu erklären. Es ist wohl schlicht der urhässliche Reflex des deutschen Neidmichels, der bekanntlich seinem Nächsten nicht das Weiße im Auge geschweige denn das Grüne in der Nase gönnt.
An den Gerüchten über ihre nicht unerhebliche Mitschuld am Tod einer Kommilitonin (die Motivlage ist unklar, womöglich ging es um den besten Standplatz), kann es nicht liegen, denn diesen Fall schildert sie erst im letzten Kapitel. Die Tatwaffe wurde übrigens nie gefunden.
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