DIE GRÜNEN KENNEN KEINEN SPASS UND SITZEN IN DER REALITÄTSFALLE: Abschied vom Walt-Disney-Prinizip
Was machte die Schaffenskraft von Walt Disney, dem Erfinder der Mickymaus, aus? Das wollte einmal der US-amerikanische Kreativitätsforscher Robert Dilts herausfinden. Dilts erkannte dabei ein Dreieck, ein „Walt-Disney-Prinzip“ der Kreativität: Der erste Schenkel ist die Zeit der Vision, der Utopie. Der zweite Schenkel ist die Phase des Realismus, der Machbarkeit. Der dritte Schenkel schließlich bezeichnet die Phase der Kritik, des Blickes „von außen“. Jeder kreative Mensch muss mit seinen Ideen immer wieder alle drei Phasen neu durchlaufen, meinte Dilts. Wer die Phase der Utopie irgendwann mal auslässt, hat verloren. Genau das ist das Problem der Grünen.
„Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit“, sagt der neue Grünen-Chef Fritz Kuhn in seinem jüngsten Zeitungsinterview. Und genau das ist sein Problem: Kuhn bezieht sich nur noch auf die Wirklichkeit, genauer gesagt auf das, was er dafür hält. Man müsse über eine Reform der Sozialhilfe nachdenken, so wurde Kuhn gestern zitiert. Die Sozialhilfe sei zu einer Art „Armutsfalle“ geworden. Das Sozialhilfesystem mache den Leuten „nicht sehr plausibel“, dazuzuverdienen. Daher müsse man „Anreize“ schaffen, arbeiten zu gehen. Zudem sollten bestimmte Sozialhilfeleistungen an „Bedingungen“ geknüpft werden, so Kuhn.
Kuhns Redeweise kommt bekannt vor: Über „Armutsfallen“ durch eine angeblich zu hohe Sozialhilfe klagen seit Jahr und Tag die Arbeitgeber, wenn sie mit sorgenvollem Gestus über die Zukunft des Sozialstaats schwadronieren. Kuhn ist beim gleichen Argumentationsstrang angekommen wie die Wirtschaft. Doch die dahinterstehende Frage: Wird die Sozialhilfe zu großzügig gewährt oder sind die Löhne zu niedrig? lässt Kuhn vorsichtshalber unausgesprochen.
Nichts in seiner Sprechweise erinnert mehr an Kuhns geradezu träumerische Äußerungen vor Jahren, als er noch Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen in Baden-Württemberg war. Damals forderte er Arbeitszeitverkürzungen, um eine „gerechtere Verteilung“ von Beschäftigung zu erlangen. Das Potential, das im Zeitgewinn stecke, müsse man „positiv“ und „gesellschaftlich“ diskutieren. Wenn die Leute weniger arbeiteten, sei da auch ein Potential für „mehr Spaß am Leben“ drin. Der Spaß ist den Grünen heute vergangen. Sie sind bei einem vermeintlichen Realismus angekommen, sicher ist sicher. Doch zu einer neuen Sozialpolitik gehört nach wie vor der erste Schritt der Utopie. Auch bei den Grünen. Man sollte die Kreativität nicht allein Walt Disney und seiner Mickymaus überlassen. BARBARA DRIBBUSCH
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