Nahezu perfekt ohne Ball

Mit Fleiß und taktischer Reife ermauert sich das deutsche Team einen Sieg gegen Spanien. Dieses Blut-Schweiß-und-Tränen-Spiel könnte durchaus identitätsstiftend wirken

Die Leichtigkeit der Torschützin: Klara Bühl nach ihrem Treffer zum 1:0 Foto: John Sibley/reuters

Aus Brentford Alina Schwermer

Als der Abpfiff ertönte, sank Lena Oberdorf auf dem Rasen zusammen, Martina Voss-Tecklenburg atmete erst mal durch. Ein Spiel, das wie ein vorgezogenes Finale dieses Turniers wirkte, war vorbei und gewonnen. Mit 2:0 hatten die Deutschen sich einen Sieg über Spanien regelrecht ermauert und damit den vorzeitigen Einzug ins Viertelfinale gesichert. Es war ein fantastisches, atemloses Ringen zweier Philosophien, das keine Minute kannte. Ihr bekommt den Ball, wir die Punkte, so lautete die riskante deutsche Strategie, die eigentlich fast immer schiefgeht. Unter tosendem Lärm des spanischen Publikums in Brentford setzten die Deutschen diesen Akt auf Messers Schneide mit Schweiß und zusammengebissenen Zähnen fast zur Perfektion um. Oft wirkte es, als sei Spanien eine Minute davor, nun aber wirklich zu treffen. Die tatsächlichen Torchancen jedoch blieben spärlich.

Nicht viele Teams können das, ein Weltklasseteam 90 Minuten den Ball zirkulieren lassen, ohne dass er auch mal reingeht. Für diese „brutal gute kollektive Defensivleistung“ (Hegering) half es gewiss, dass schon in der dritten Minute Torhüterin Sandra Paños einen haarsträubenden Fehlpass spielte, direkt in die Füße von Klara Bühl. Bühl, eine der Besten in der ersten Hälfte mit defensiver Ackerleistung und einziger Aktivposten nach vorn, vollstreckte humorlos zum 1:0. Noch in der ersten Halbzeit erhöhte Alex Popp mit der zweiten echten Chance per Kopf auf 2:0 und unterstrich ihre Wichtigkeit fürs Team. Das hässliche Spiel der Deutschen gegen das schöne Spiel der Spanierinnen trug Früchte.

Quote: Über 8 Millionen Zuschauer verfolgten am Dienstagabend den 2:0-Sieg des DFB-Teams gegen Spanien. Durchschnittlich 8,02 Millionen Fans vor den Bildschirmen bedeuteten einen Marktanteil von 34,3 Prozent.

Forderung: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat am Dienstag in einem Tweet Equal Pay für Nationalspielerinnen gefordert: „Wir haben 2022. Frauen und Männer sollten gleich bezahlt werden“, so der SPD-Politiker. Scholz nannte Spanien als Vorbild.

Dass sich Voss-Tecklenburg überhaupt genötigt sah, diese Strategie zu wählen, statt mitzuspielen, sagt schon einiges über die herausragende Entwicklung des spanischen Teams der letzten Jahre. Und über das Entwicklungsdefizit in Deutschland. „Wir wussten, dass wir zwei Möglichkeiten haben, gegen Spanien zu Chancen zu kommen“, erklärte Voss-Tecklenburg nachher geradeheraus. „Erstens: hohes Pressing, aber das können wir nicht so lange aufrechterhalten. Die zweite Möglichkeit ist ein tieferes Pressing im 4-5-1, um die Außen zuzumachen.“ Lange Strecken war dies das Mittel der Wahl. Klar, sagte sie trocken, mehr Ballbesitz wäre vielleicht schön. „Vielleicht schaffen wir es, uns dahin zu entwickeln, dass wir auch gegen Spanien mehr Ballbesitz haben, aber noch sind wir nicht so weit.“ Schon ein erstaunliches Eingeständnis angesichts dessen, dass die Spanierinnen bis vor Kurzem international noch fast keine Rolle spielten.

So war es vor allem die Nacht der robusten Schlachtrösser. Die starke Lena Oberdorf räumte kompromisslos alles ab, während ihre Kolleginnen vor dem eigenen Sechzehner Passwege zuliefen. Es war ein Spiel, das fast durchweg so aussah wie die letzten fünf Minuten einer 1:0-Führung im Champions-League-Finale. Was durchkam, wurde von Marina Hegering als Turm in der Schlacht entsorgt. Sophia Kleinherne empfahl sich in der zweiten Hälfte anstelle der bisweilen wackligen Felicitas Rauch. Und Merle Frohms parierte in der 70. Minute Weltklasse gegen Caldentey, nachdem sie in der Phase zuvor mit ein paar schlechten Zuspielen unnötig schnell den Ball hergeschenkt hatte. „Die Mannschaft war heute bereit zu leiden“, resümierte Voss-Tecklenburg. „Ich bin stolz, dass wir das können, die richtigen Mittel für Gegner wählen.“ Der hohen taktischen Flexibilität darf sich die deutsche Elf rühmen. Und die kollektive deutsche Defensive, vor dem Turnier noch als Schwachpunkt ausgemacht, schaffte es in einer glänzenden Partie, Spanien müde zu rennen.

„Ich bin stolz, dass wir das können, die richtigen Mittel für Gegner wählen“Martina Voss-Tecklenburg

Mit dem Sieg geht die deutsche Elf im Viertelfinale den ebenfalls als Gruppenerste qualifizierten Engländerinnen aus dem Weg. Das dürfte beide Seiten freuen. Nach dieser Vorrunde käme ein mögliches Aus gegen die berauschten Engländerinnen eher unpassend für das zarte Wiedererblühen des deutschen Fußballs. Österreich oder Norwegen sind machbare Aufgaben.

Dass im bedeutungslosen letzten Spiel gegen Finnland am Samstag Lena Oberdorf und Felicitas Rauch gelbgesperrt fehlen, dürfte Voss-Tecklenburg wesentlich weniger beunruhigen als die leichte Verletzung von Lina Magull und die Corona-Erkrankung von Lea Schüller. Wie schnell ein Corona-Ausbruch Titelträumen ein Ende bereiten kann, daran erinnern sich vor allem die Bayern-Spielerinnen bestens. Vorerst aber ist Träumen möglich, nach dem Spiel umso mehr denn je. Die Deutschen haben gezeigt, dass sie auf ein Team, das auch ohne Alexia Putellas zu den besten des Turniers zählt, eine kluge Antwort haben. Und solche Blut-Schweiß-und-Tränen-Spiele sind ja auch schon mal identitäts­stiftend.