DER SCHLAGERMOVE IST EINE SCHAUERLICH SCHRECKLICHE PARTY. ABER DIE WELT IST EBEN FÜR ALLE DA : Abfall, Urin und Heino mit seinen Hits
KATRIN SEDDIG
Heino vorneweg, schwarzer Rollkragen, rotes Jackett, goldenes Haar und „Party, bis die Rücklichter ausgehen“, das ist die Spitze einer schauerlich schrecklichen Party, die Hamburg St. Pauli jedes Jahr überrollt und sich wie ein klebriges, altes Bonbon in Form von Abfall, Urin und Schlagermusik in ihre Ritzen und Ecken schmiert. Die Lieder sind alt, dumm, sie sind geschmacklos, über die Stars will ich nichts sagen, sie singen ungebrochen, sie wollen es nicht anders, sie singen ihren Hit, den sie auch auf dem Ballermann singen, sie singen ihn eine Million Mal, sie singen die gleichen Worte immer wieder, sie singen, als wären sie in alle Ewigkeit dazu verdammt, aber sie geben nicht auf. Ungebrochen stehen sie auf der Bühne, solariumgebräunte Knitterhaut und sind Stars einer Szene, die nur eines will: Wiederholung.
Wer zum Schlagermove geht, und das sollen in diesem Jahr etwa 400.000 Menschen gewesen sein, der will die Lieder hören, die er letztes Jahr auch schon gehört hat, und das Jahr davor und das Jahr davor. Er will wild und verrückt sein und ganz viel lachen. Er will einen schlechten Geschmack haben dürfen und dieses ungeheure Wagnis euphorisiert ihn schon, wenn er sich zu Hause in Groß Borstel das Gesicht anmalt. Er will Hugo aus Dosen trinken, er will sich nass spritzen lassen, all die verrückten Sachen, er will den Hochkulturspießern den Stinkefinger zeigen, heute darf ich, heute bin ich Mensch. Das Büro ist abgeschlossen, die Kinder bei der Oma, die Kollegin und die Gartennachbarin sind auch dabei, die Perücke neu bei Amazon bestellt, ganz in Blau, Afro in Blau und Marius hat eine in Pink, das hatten letztens auch ganz viele, sah richtig verrückt aus, machen sie jetzt deshalb auch. Dann die Kreativen, die sogar selber nähen, liebevoll und mit Fantasie, die haben sich richtig was bei gedacht. Und das alles ist ja gar nicht ernst gemeint, ist ja nur Parodie, ist nur albern und ausgelassen sein, wer soll denn ihnen das verargen? Lass sie doch. Lass die doch, man. Die tun ja keinem was. Die tun dir doch nichts. Nein, tun sie nicht.
Verkleiden ist an sich gut. Verkleiden tut uns gut. Gaukelei und Travestie, Zirkus, Karneval und Theater. Da bin ich für, jedenfalls bei anderen, für das Aus-der-Haut-Schlüpfen und das Sich-selbst-Fremdsein. Da zittert der junge Auszubildende im Groß- und Außenhandel insgeheim und tief in sich drinnen über das Wagnis des Sich-selbst-Lächerlichmachens, aber schnell kommt sein Mut zurück, denn sieh mal einer an, dies hier ist eine große Gemeinschaftssache. Der Fredi hat auch dieses glänzende Hemd an und fast den gleichen Afro.
Das macht den Auszubildenden im Groß- und Außenhandel mutiger, er kippt ein paar Energy-Drinks mit Jägermeister zusammen und später dann noch Wein. Wein mit Schuss. Und Schuss mit Wein und dann erhebt er seine, dann erheben sie alle ihre gemeinsame Stimme: „Weine nicht, wenn der Regen fällt, damm damm, damm damm.“ Und, komplett verrückt, gerade regnet es sogar in echt. Es regnet und sie singen, „Weine nicht, wenn der Regen fällt.“ Das ist echt. Das ist alles komplett verrückt und echt. Die Mädels haben echt süße, nackte Bäuche und singen so süß nackt verrückt mit. Es ist auch irgendwas mit Liebe. Und mit Deutschland. Deutschland ist ja jetzt auch wichtig. Wegen des Fußballs. Weil jetzt gerade WM ist. Deshalb passt auch gut Heino. Der ist ja auch immer Deutschland. Und man kann sich auch so eine Hawai-Kette in Schwarz-Rot-Gold umhängen. Die hat man sowieso schon gekauft, wegen Fußballs.
Aber gut, was will ich sagen? Einer liest Gottfried Benn. Der Rest liest Ich+Ich. Das ist die Welt. So setzt sie sich zusammen. Und denen, denen die überdimensionale Hässlichkeit und das gewalttätige Element der gemeinschaftlich zelebrierten Euphorie einen leisen Grusel verursacht, muss ich leider sagen: Da kann man nichts machen. Die Welt ist für alle da. Katrin Seddig ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012 bei Rowohlt. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen