DER ISLAM MUSS REFORMATION UND AUFKLÄRUNG NACHHOLEN: Vormoderne Semantik
Die islamische Religion kennt keine Kirche, keine zentrale Autorität. Die Interpretationsgewalt über die religiösen Quellen ist in der Hand von Theologen, Rechtsgelehrten und Vorbetern. Während in der abendländischen Welt die Religion im Zuge der Aufklärung erfolgreich privatisiert worden ist, erhebt sie in der islamischen Hemisphäre nach wie vor den Anspruch, eine gesetzgebende, alle Bereiche des weltlichen Lebens umfassende Ordnungsmacht zu sein. Westliche Intellektuelle können sich kritisch auf das Judentum und Christentum beziehen, wenn sie ihre Identität definieren. Der Islam aber fällt als moralische Kraft und ästhetische Inspirationsquelle für die moderne Welt weitgehend aus, weil seine Semantik vormodern geblieben ist. Muslimische Intellektuelle säkularer Prägung erreichen mit ihren Kritiken weder die Massen noch die religiösen Leitfiguren.
Spätestens seit den radikalen Reformen Kemal Atatürks in der Türkei bestimmt somit eine tiefe Spaltung das geistige Leben in der islamischen Welt. Diese Spaltung gilt es zu überwinden, um jene Kräfte zu schwächen, die im Namen des Islam Terror und Schrecken verbreiten. Diese Aufgabe scheint kaum erfüllbar zu sein. Denn die muslimischen Theologen, bis auf wenige Ausnahmen, haben sich vom intellektuellen Leben verabschiedet. Sie leben abgeschottet, innerhalb der engen Interpretationsräume ihrer heiligen Texte. Die säkularisierten Intellektuellen ihrerseits haben sich vom Islam abgewandt und sind pessimistisch im Hinblick auf die Reformfähigkeit des Islam. Ihre geistige Welt ist inzwischen deckungsgleich mit den Denkgebäuden der aufgeklärten Welt.
Es gibt eine Reihe von Konferenzen mit dem Thema „Islam und Aufklärung“, „Islam und Menschenrechte“. Die Wirkung, die von solchen Debattierrunden ausgeht, verpufft jedoch schnell, weil die Stimmen, die auf den Podien zu Wort kommen, nicht in der Lage sind, die Massen zu erreichen und eine permanente Diskussion auszulösen. Zu viele Kritiker des radikalen Islam sind in den letzten Jahren Attentaten zum Opfer gefallen. Zu wenige geistliche Führer erkennen die Notlage, in der das islamische Denken der Gegenwart steckt. Sie flüchten sich in eine apologetische Haltung, die den Westen und seine Werte zum Sündenbock für die eigene Krise macht. Gibt es also keine Hoffnung?
Was jetzt geschehen muss, ist eine Vernetzung aller aufgeklärten Stimmen in der islamischen Welt. Es gibt durchaus bedeutende Gelehrte und Autoren, die mit innerislamischen Argumenten eine Reformation des Islam einleiten könnten. Diese sitzen sowohl in den Metropolen des Westens wie in Paris, als auch in der islamischen Welt, in Sarajevo, in Marokko, in der Türkei und auch im Iran. Die so genannten Reformkräfte im Iran üben gerade diesen Spagat zwischen Aufklärung und Islam, bisher mit geringem Erfolg. Die Türkei war in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts Schauplatz zahlreicher geistiger und politischer Auseinandersetzungen für eine Reform des islamischen Denkens. Doch diese kritischen Ansätze sind bislang nicht gut organisiert, berühren sich nur ansatzweise – und was noch schwerer wiegt: sie finden keine politische und soziale Unterstützung. Der Westen hat sich bislang viel zu wenig um die Angelegenheiten des islamischen Denkens gekümmert. Was an der islamischen Welt interessiert, ist Öl, sind strategische Optionen.
In den letzten Jahren setzte man auf einen Dialog zwischen den Kulturen und Religionen. Doch viel wichtiger ist jetzt der Dialog innerhalb der islamischen Kultur, um die Kluft zwischen geistiger und geistlicher Welt zu überbrücken. Beginnen müssten diesen Dialog gemäßigte islamische Geistliche und säkular orientierte Intellektuelle.
Nur eine konzertierte Aktion, die mit wirtschaftlichen, politischen, sozialen und geistigen Mitteln vorgeht, wird im Kampf gegen den Terror zum Erfolg führen. Die Verbündeten in diesem Kampf sind nicht nur Juden, Christen und Nichtkonfessionelle, sondern auch Muslime, die jetzt besonders herausgefordert sind, gegen die Missinterpretation ihres Glaubens vorzugehen. Es rächt sich bitter, dass die islamische Welt Regime wie die der Saudis und der Taliban toleriert, ihre Untaten unkommentiert hinnimmt. Doch wer soll diese Leute exkommunizieren? ZAFER SENOCAK
1961 in Ankara geboren, lebt als Autor in Berlin. In diesem Monat erscheint seine Essaysammlung „Zungenentfernung“ im Babel Verlag
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen