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DEBATTEStreitkultur, Grenzfälle, Reibungen und Konsensfähigkeit

■ Trifft für die „Bürgerbewegten“ in der Ex-DDR Bernsteins Credo „Bewegung ist alles, Ziel ist nichts“ zu?/ Die Bürgerbewegungen der Ex-DDR und die „West“-Grünen/ Kein Alternativvergleich/ Angesichts des Dilemmas der Grünen kann auf eine politische Alternativkraft in Deutschland in der nächsten Legislaturperiode nur noch gehofft werden

Was sich zum Parteitag der Grünen in Neumünster abspielte, ließ in vieler Hinsicht zu wünschen übrig, daß sich aber ausgerechnet Vertreter der ostdeutschen Bürgerbewegungen mit entrüsteter Distanz darüber äußern, darf schon fast als unfair gewertet werden. Wenn sich zwei politische Bewegungen im gleichen Dilemma befinden, mutet es geradezu makaber an, wenn die eine mit Blick auf die andere schulmeisterlich den Zeigefinger hebt. Es wäre geradezu fatal, sollte auch nur ansatzweise der Alternativvergleich zwischen den Grünen und den ostdeutschen Bürgerbewegungen entstehen. Einen Vorteil allerdings haben die ostdeutschen Bürgerbewegungen gegenüber ihren Wahlbündnispartnern im Westen: Durch die Ereignisse im Herbst 89, als deren Initiatoren sie in den Medien gelten, werden sie von der Öffentlichkeit (besonders von der Presse) mit Samthandschuhen angefaßt und unterliegen somit nicht der sonst im „Politikgeschäft“ üblichen harten Kritik. Genau dies bekommt den Bürgerbewegungen überhaupt nicht, wie man an den selbstgerechten Äußerungen ihrer Vertreter in der Öffentlichkeit sieht. Beschäftigt man sich etwas eindringlicher mit dieser „neuen“ Form politischer Alternative, bemerkt man bald, wie weit auch hier der Anspruch (Programme, politische Zielsetzungen, Selbstverständnis) und die Realität auseinanderdriften.

Politische Streitkultur

Werner Schulz (MdB, Neues Forum) beschreibt seine Eindrücke vom Parteitag der Grünen in Neumünster: „Ich schüttle mich, wenn ich daran denke, daß ein dreitägiger Parteitag gerade mal eine halbe Strukturreform, einen Drittel-Vorstand und ein Konsenspapier zustande bringt und die Probleme der Welt im Grunde nicht zur Kenntnis nimmt, schon gar nicht in Ostdeutschland. Uns Ossis hat das Hickhack in Neumünster schlicht und einfach die Sprache verschlagen“, denn: „Ich habe hier eine fürchterliche Streitkultur erlebt. Das schreckliche Zerwürfnis ist schockierend für mich.“

Diese Kritik trifft voll ins Schwarze, doch Werner Schulz hat, wie andere Bürgerbewegungsfreunde aus der Ex-DDR, völlig vergessen, von der in ihren Bewegungen herrschenden Streitkultur zu berichten, als den Grünen helfende Alternative sozusagen. Hierzu schreiben Demokratie Jetzt und Initiative Frieden und Menschenrechte am 14.5. zum Austritt der ökologischen Linken aus der Grünen Partei: „Einer Streitkultur, die bis zur Parteispaltung eskalieren konnte, möchten wir eine von gegenseitigem Respekt und Toleranz geprägte politische Kultur entgegensetzen, die wir über Parteigrenzen hinaus tragen wollen.“ Was immer das auch heißen mag, wie sieht es denn nun wirklich aus bei den Bürgerbewegungen?

Bündnis 90 — ein Wahlbündnis, wird leider häufig als der Zusammenschluß der ostdeutschen Bürgerbewegungen kommentiert, doch haben die fünf Bürgerbewegungen der Ex-DDR (Neues Forum, Demokratie Jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte, Vereinigte Linke, Unabhängiger Frauenverband) es bis heute nicht geschafft, sich zusammenzuschließen. Diese separate Existenz von in ihren politischen Zielsetzungen teilweise recht stark differierenden Organisationen ist die beste Voraussetzung, Prinzipdiskussionen — über die man sich bei den Grünen so erregt — von vornherein aus dem Weg zu gehen. Kommt es gezwungenermaßen doch einmal dazu, ist es mehr als peinlich — man erinnere sich nur der langwierigen und an mangelnder Sachbezogenheit beispielhaften Verhandlungen zum Zustandekommen des Wahlbündnis Bündnis 90 zur letzten Bundestagswahl oder des Hickhacks der „Bündnisverhandlungen“ zu den Landtagswahlen in den fünf neuen Bundesländern.

Doch nicht nur im eigenen Bürgerbewegungsmilieu, auch nach außen ist kaum etwas die politische Streitkultur Förderndes bei den Bürgerbewegungen passiert. Es gab so gut wie keine öffentlichen Veranstaltungen, Diskussionen oder ähnliches, die auch nur ansatzweise den eigenen Horizont erweitern halfen, wo man sich mit völlig anderen Standpunkten und Meinungen auseinandersetzte, eben stritt. Die deutsche Wiedervereinigung, der Golfkrieg, die Situation in den neuen Bundesländern — dies wären, um nur ein paar Beispiele zu nennen, Themen für interessante Veranstaltungen dieser Art gewesen. Man scheute solch demokratische Auseinandersetzungen, blieb unter sich, also auf dem Niveau der „Dissidenten- Wohnküchenkultur“, und leidet heute zwangsläufig unter einem verminderten gesellschaftlichen Wahrnehmungsvermögen. Wer solch eine Unfähigkeit zum politisch konstruktiven Streit an den Tag legt, der sollte mit seiner Kritik an den Grünen, so berechtigt sie auch sein mag, doch etwas kürzer treten.

Auf ihrer letzten Vertreterkonferenz im Februar haben sich die Initiative Frieden und Menschenrechte und Demokratie Jetzt in einem Thesenpapier für die gemeinsame Bürgerbewegung Bündnis 90 zu ihren politischen Grundsätzen bekannt. Nach der Aufzählung einiger Unterscheidungsmerkmale zu traditionellen Parteien (Bekenntnis zur Basisdemokratie, Offenheit jeglicher Politik, Träger einer neuen demokratischen Kultur) steht dort unter der verheißungsvollen Überschrift „Die Bürgerbewegung als alternative Kraft“: „Grundlage unserer politischen Willensbildung soll keine Ideologie, sondern eine politische Ethik sein, deren leitender Wert das Leben im umfassenden Sinn des Wortes ist. Unser Leitbild ist die solidarische Gesellschaft, die Frieden als Frucht von Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde in der Gemeinschaft allen Lebens verwirklicht.“ Nach diesen salbungsvollen Worten bekennt man sich zu den Elementen direkter Demokratie (Volksentscheide, Volksbegehren, Bürgerforen usw.), regionale Selbstbestimmung und kommt dann schließlich zur Wirtschaft. Scheinbar resigniert stellt man fest: „Zur Marktwirtschaft gibt es gegenwärtig keine Alternative.“ Es folgt eine Reihe von Forderungen, um dieses Übel wenigstens halbwegs erträglich zu gestalten. Soweit zu Selbstdarstellung und Anspruch.

Historische Verdienste

Achtet man auf die Stellungnahmen der Bürgerbewegungen zu brennenden politischen Fragen der Zeit, so fällt auf, daß diese, wenn überhaupt vorhanden, sehr selten von denen der PDS zu unterscheiden sind. Befragt man prominente Vertreter der Bürgerbewegungen über ihre Abgrenzung zur PDS, erhält man nur einen Verweis auf die Vergangenheit. Diese Abgrenzungsschwierigkeiten und die Unfähigkeit, politische Arbeit öffentlich zu machen, sind entgegen des Selbstverständnisses der Bürgerbewegungen zwei ihrer größten Probleme. Welche Politikfelder also können die Bürgerbewegungen kompetent abdecken, wo hat der Bürger etwas von ihnen zu erwarten?

Zweifellos unbestritten sind ihre Verdienste bei der Auflösung des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit sowie die Aufarbeitung dieser Vergangenheit und ihr Eintreten für eine neue deutsche Verfassung. Noch zu DDR-Zeiten bewies man ihr Kompetenz bei der Erarbeitung des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches. Doch diese Themen rücken heute immer mehr in den Hintergrund angesichts der enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern. Zu diesen Problemen, die die Öffentlichkeit derzeit am meisten bewegen, können die Bürgerbewegungen sehr wenig Konstruktives sagen — es fehlt einfach an Kompetenz. Zwar hat man in der Vergangenheit immer wieder vor der überhasteten deutschen Wiedervereinigung und den damit verbundenen Folgen für die Wirtschaft in Ostdeutschland gewarnt, doch hatte man einerseits keine konkreten Vorstellungen vom wahren Zerrüttungsgrad der Wirtschaft im Lande (was angesichts der beruflichen Herkunft der Mehrheit der Bürgerbewegten geradezu logisch ist), andererseits unterschätzte man mit Blick nach Osten den dringenden Handlungsbedarf und die Einmaligkeit dieser Chance. Die Entwicklung der letzten Monate in der Sowjetunion aber gaben im nachhinein den Befürwortern einer schnellen deutschen Einheit recht, so schwer man auch jetzt an den damit verbundenen Lasten zu tragen hat.

Mit der Außenpolitik, so scheint es, tut man sich ohnehin etwas schwer bei den Bürgerbewegungen. Im bereits eingangs zitierten Thesenpapier steht dazu bloß: „Wir vertreten das Prinzip strikter Gewaltlosigkeit auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Es bezieht sich nicht nur auf militärische Gewalt.“ Anschließend bekennt man sich zur radikalen Abrüstung, deren Mittel im Sinne einer neuen sozialen und ökologischen Weltordnung voll den armen Ländern zugute kommen soll.

Politische Themen

In der Zeit des Golfkrieges reagierte Wolfgang Ullmann (MdB, Demokratie Jetzt) auf die Vorwürfe gegen die deutsche Haltung: „Wir müssen die Bundesregierung durch weitere Aktionen vom Druck des Auslands, der auf ihr lastet, soweit es in unseren Kräften steht, entlasten.“ Dies ist die logische Konsequenz aus dem oben zitierten, widerspricht aber völlig dem — auch von anderen Vertretern der Bürgerbewegungen — in der Öffentlichkeit sonst so gern geäußerten Bekenntnis zum „gemeinsamen europäischen Haus“ oder dem „globalen Denken“. Statt sich den Vorwürfen des Auslands zu stellen, driftet man immer wieder in die europaweit gefürchtete deutsche Isolation ab. Ähnlich verhielten sich die Bürgerbewegungen bei der Debatte um die Nato-Zugehörigkeit des vereinten Deutschlands und des Einsatzes von Bundeswehrsoldaten außerhalb des Nato-Gebiets.

Auf den noch verbleibenden Gebieten Kultur, Sozialpolitik, Bildung/Erziehung/Jugend und Ausländerarbeit gibt es regionale Arbeitsgruppen, die zum Teil mit den Abgeordneten in den Kommunalparlamenten eng zusammenarbeiten, über deren Ergebnisse — sofern vorhanden — aber recht selten etwas an die Öffentlichkeit dringt, so daß eine Wertung derselben recht schwerfällt.

Bliebe als letztes die Ökologie und der Umweltschutz. Die sich auf diesem Gebiet im Osten Deutschlands schon zu DDR-Zeiten engagierenden Gruppen sind zu einem beträchtlichen Teil bei den Grünen, die außer dem Landesverband Sachsen bereits mit den Westgrünen eine Fusion eingegangen sind, oder der Grünen Liga organisiert. Von diesem Kapital können die Bürgerbewegungen relativ wenig zehren.

Zur Politik auf Bundesebene haben die Bürgerbewegungen der Ex-DDR derzeit also nur sehr wenig beizusteuern. Sie verfügen über geringe Kräfte. Aufgrund der noch immer bestehenden Nebeneinanderexistenz von fünf Bürgerbewegungen werden sie äußerst uneffektiv eingesetzt, von den ohnehin uneffektiven „basisdemokratischen“ Arbeitsweisen einmal ganz abgesehen. Klar ist inzwischen auch, daß ein politisches Überleben der nächsten Bundestagswahl, wenn überhaupt, nur mit den Grünen zu machen ist. Schaut man sich, wie in Neumünster bestens zu sehen, deren momentanes Dilemma an, kann man auf eine politische Alternativkraft im Deutschland der nächsten Legislaturperiode eigentlich nur noch hoffen. Es wäre schade, müßte man auf eine solche Kraft verzichten. Thomas Voit

Der Autor ist im Berliner Haus der Demokratie in der Friedrichstraße beschäftigt. Unter anderem auch wegen seiner kritischen Haltung betreffs der politischen Streitkultur in der Bürgerbewegung und anderweitiger Querelen ist ihm die Aufkündigung des Arbeitsverhältnisses zum 1. September angekündigt worden.

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