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DEBATTEEine Welt

■ Die internationale Vernetzung erfordert eine anationale Staatlichkeit

Das Jahr 1989 wird als Beginn tiefgreifender politischer, ökonomischer und kultureller Umwälzungen in Osteuropa — und davon abgeleitet in vielen Ländern der Dritten Welt — in Erinnerung bleiben. Um die Bewegungen zu deuten, wird gern eine Parallele zur Dekolonisierung gezogen, in der die Weltreiche des klassischen europäischen Imperialismus zugunsten einer Vielzahl unabhängiger Staaten aufgelöst werden. So ließe sich das 20. Jahrhundert auch als Jahrhundert der Staatenbildung kennzeichnen: Während noch 1913 erst 22 souveräne Staaten anerkannt waren, ist die Zahl in mehreren Schüben auf inzwischen über 160 angestiegen.

Diese Entwicklung steht in einem seltsamen Widerspruch zu einem anderen Trend: dem einer sich unaufhaltsam verdichtenden Integration der Welt. Noch während Befreiungsbewegungen eine eigenständige Politik ankündigen, rufen sie den IWF und die Weltbank auf, den wesentlichen Inhalt der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik für sie zu entwerfen; noch während sie auf ihrer kollektiven Identität als Litauer, Slowenen und Eritreer oder als Moslems und Hindus bestehen, wandern sie zu Hunderttausenden aus, um sich in fremder kultureller Umgebung einzurichten und dort einen Lohn zu finden, der ihnen einen höheren Lebensstandard ermöglicht als zu Hause. Die kulturelle Identität zählt da vergleichsweise gering.

Um ein wenig Ordnung ins Chaos zu bringen, sollte man die Sphäre der identitätsstiftenden Symbolik, der Fahnen, des Blutes, der Nationalfarben und der Sprachen verlassen und sich auf die Kernbestände von Funktionen und Aufgaben besinnen, die der Staat zu erfüllen hat und die seine Existenz in der Neuzeit rechtfertigen. Um allzu viele kostspielige Irrwege zu vermeiden, sollte an Einsichten angeknüpft werden, die bei Macchiavelli und Locke beginnen, von Smith und Marx weitergeführt werden und bei Schumpeter, Keynes und Eucken wohl nicht enden. Bei aller Differenz in der politischen Absicht zieht sich durch die genannte und durch sie inspirierte Literatur wie ein rotes Band eine Erkenntnis: Gesellschaften, in denen Kapital akkumuliert wird, in denen Waren produziert und mit Geld gekauft werden, in denen nicht das kollektiv Produzierte kollektiv konsumiert wird, sind nicht denkbar ohne eine reale Trennung von Sphären.

Der Staat ist kein Ort des Gefühls

Anders aber, als schon die romantischen deutschen Staatsphilosophen und nun noch die Kämpfer für neue Staaten behaupten, ist der Staat nicht der Ort der großen Gefühle und gelebter Identitäten. Vielmehr existiert er, „um solche Anstalten zu treffen und solche Werke herzustellen und zu unterhalten, die, wenn sie auch für eine große Gesellschaft höchst vorteilhaft sind, doch niemals einen solchen Profit abwerfen, daß sie einem einzelnen die Kosten ersetzen und deren Einrichtung und Unterhaltung daher von keinem einzelnen und keiner kleinen Anzahl von Personen erwartet werden darf“. Diese schöne und immer noch aktuelle Definition von Adam Smith verweist auf die Finanzierung dieser Aufgaben über allgemeine Abgaben, d.h. auf Steuern, in denen dann auch Schumpeter „die materielle Existenz des Staates“ gesehen hat.

Schon Steuerpolitik in all ihren Facetten wird nur noch wenig in „nationaler Souveränität“ gestaltet. Und selbst Umwelt-, Kriegs-, Geburten- und Kulturpolitiken ändern daran nichts: Wo immer nationale Alleingänge versucht werden, scheitern sie, müssen sie scheitern, da die Integration der Weltwirtschaft der Politik ihren Zwang aufdrückt. Das gilt schon für die mächtigen, hochindustrialisierten Staaten, es gilt erst recht für die neuen.

Die Erstellung und Unterhaltung der Infrastrukturen neuer Staaten ist Aufgabe nichtnationaler (Entwicklungs-)Organisationen, die Formulierung von Wirtschafts- und Finanz-, Umwelt- und Bevölkerungspolitiken geschieht nach hochstandardisierten Mustern beim Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Solche uniformen Modell-Kernpunkte eines jeden Strukturanpassungsprogramms sind: Erhaltung und Ausbau der Infrastruktur, Reform des öffentlichen Dienstes, Privatisierung oder Stillegung von Staatsunternehmen, Liberalisierung des Handels, Reduzierung von Subventionen und Aufhebung von Preiskontrollen, Liberalisierung des Devisenverkehrs bei Einführung von Konvertibilität der nationalen Währung. Der Bürger in Jena kennt diese Programmpunkte inzwischen ebenso wie der in Moskau, Warschau, Windhuk, Addis Abeba, Bangui oder Bogotá — und wie der in Paris, Washington oder Bonn.

Nationale Befreiungsbewegungen werden also auch dort, wo sie sich durchsetzen, nicht zur Gründung unabhängiger Staaten führen. Sie werden der UNO neue Fahnen zufügen. Die meisten von ihnen werden zu Kostgängern supranationaler Organisationen werden, da das Steueraufkommen nicht ausreichen wird, um die Staatsfunktionen wahrzunehmen. Zusätzlich werden sie genau jene Strukturen reproduzieren, gegen die sie mit ihrem Anspruch auf kollektive Identität anrennen: Jede Gruppe, die sich religiös, sprachlich, ethnisch oder wie sonst immer von anderen unterscheiden will und dies in territorialen Grenzen zu fixieren versucht, schafft notwendig Minderheiten innerhalb dieser Grenzen. Die Minderheit ist der ungewollte Zwilling der kollektiven Identität in Staaten. Je heftiger auf dieser beharrt wird, desto rücksichtsloser ist die Unterdrückung des anderen.

Bei den diffusen Forderungen in Polen, Litauen, der DDR und anderen Einheiten nach Freiheit steht im Vordergrund nicht territoriale Abgrenzung, also Souveränität, sondern die Geschichte der Unterdrückung von Minderheiten, des Leidens unter zentralistischen Diktaturen und die Hoffnung auf Staatlichkeit als Durchsetzung des Allgemeininteresses. Diese Erfahrungen und Hoffnungen aber können sich nicht in einer Vielzahl neuer Staaten bündeln.

Demokratisierung der globalen Strukturen

Die politische Orientierung der Welt muß sich radikal ändern: weg vom Konzept des Territorialstaats, das ja selbst noch relativ jung ist und aus der Not des historischen Augenblicks geboren wurde, und hin zu einer anationalen Staatlichkeit, d.h. der weltweiten Erfüllung von Aufgaben, wie sie die weltweit integrierte Wirtschaft und Gesellschaft heute fordert. Allerdings ist das keine neue Weltordnung, die von einer Nation, etwa den USA, verwaltet wird, sondern der auch die USA unterworfen sind. Das ist schon jetzt keine wohlfeile Utopie. Jedes Strukturanpassungsprogramm unter der Kontrolle des IWF ist anationale Wirtschafts- und Fiskalpolitik, jeder Schuldenerlaß ist Strukturausgleichspolitik.

Es täte not, all diese disparaten, widersprüchlichen Politiken in eine Ordnung zu bringen und offen zu politisieren. Dann stellte sich heraus, daß die Unterdrückung von Minderheiten und von Frauen, die Verletzung von Menschenrechten, die Vorenthaltung von Erziehung, Gesundheit und anderen sozialen Mindestausstattungen in Ländern, die sich im übrigen in den Weltmarkt integrieren, keine „inneren Angelegenheiten“ sind, sondern daß es sich um flagrante Verstöße gegen heute universelle (Rechts-)Prinzipien handelt. Wenn Mauretanien sich der Weltwirtschaft öffnet und die Finanzierung einer modernen Infrastruktur fordert, dann kann es nicht gleichzeitig Sklaverei als liebenswerten regionalen Partikularismus verteidigen; wenn in Deutschland weiterhin Frauen das Recht auf Selbstbestimmung in der Kriminalisierung der Abtreibung verweigert wird, dann kann sich diese Praxis nicht mit den Denkgewohnheiten patriarchalischer Religion legitimieren.

Bislang ist es nichtstaatlichen Organisationen wie amnesty internatioalen, Greenpeace oder dem Russell- Tribunal vorbehalten gewesen, die Verletzung fundamentaler Rechtsprinzipien zu denunzieren. Im ersten Schock des Golfkrieges sah es so aus, als käme weltweit eine breite Diskussion um die drängendsten Probleme in Gang. Gelegenheiten bieten sich an: Die Reformen, d.h. Demokratisierung der UN-Charta, des Sicherheitsrats, der Statuten des Internationalen Gerichtshofs, der Satzungen von IWF und Weltbank sind überfällig. Doch die kaum aufgeflammte Debatte wird leiser. Die Probleme aber wachsen. Rolf Knieper

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