DEBATTE: Im Westen was Neues
■ Bonn zeigt in Person des Justizministers Kinkel ungeahnte Zivilcourage
Endlich. Nach 21 Jahren RAF- Geschichte ist die Chance für eine friedliche Beendigung da. Noch zum Jahresende 1991 war in verschiedenen Zeitungen zu lesen, daß der RAF-Astrologe Zachert, im Nebenberuf BKA-Präsident, vor neuen Anschläge warnt. Sein Orakel basiert auf den bevorstehenden Feiern zur „Entdeckung“ Amerikas vor 500 Jahren. Im BKA nichts Neues, man wartet auf die nächsten Morde. Die einzige Neuigkeit kam 1991 aus dem Innern der Familie Zachert: Seine Frau steht fest an Zacherts Seite und wünscht ihm zu jedem Geburtstag und zu allen Weihnachten „einen gefangenen Terroristen“. Die Geschichte, um die es seit 1970 geht, ist nicht zum Lachen. Dafür ist zu viel geschehen, was kein Mensch mehr korrigieren kann. Die Zahl der Opfer der RAF und die Zahl der toten RAF-Leute ist längst so groß, daß niemandem mehr alle Namen und alle Menschen präsent sind.
Als ich 1988 nach 16 Jahren Haft — als erster zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilter Gefangener — vom damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel begnadigt wurde, wollte ich, daß aus meinen Hafterfahrungen Konsequenzen gezogen werden. Die ersten sieben Jahre Haft in Einzel- und Kleingruppenisolation hatten mich davon abgehalten, die RAF zu verlassen. Erst, als ich 1985 normale Haftbedingungen erhielt, 13 Jahre nach meiner Verhaftung, habe ich meine Kritik an der RAF in einem taz-Interview öffentlich gemacht. Dann dauerte es weitere drei Jahre bis zu meiner Entlassung. Diesen hohen Preis sollte niemand mehr zahlen müssen. Ein vergeblicher Wunsch, wie sich an der jetzt 20jährigen Haftgeschichte von Irmgard Möller ablesen läßt.
1989, nach dem letzten Hungerstreik der Gefangenen aus der RAF für ihre Zusammenlegung, konnten Christiane Enslin und ich mit dem damaligen Staatssekretär im Justizministerium, Klaus Kinkel, sprechen. Es war die erste Begegnung mit einem Juristen im Staatsdienst, den wir nicht über die verhängnisvolle Geschichte der Haftbedingungen für die Fortexistenz der RAF aufklären mußten. Mit seiner Entscheidung als heutiger Justizminister, das in seiner Macht stehende zu tun, damit die haftunfähigen Gefangenen aus der Haft entlassen werden, und damit zugleich die Entlassung aller anderen einzuleiten, geht er über die Haftfrage hinaus. Wir alle wissen, daß seine Entscheidung noch nicht mehrheitsfähig ist. Im eigenen Ministerium, in der Bundesanwaltschaft, im Bundeskriminalamt, in den Parlamenten, überall sitzen Vertreter einer Betonriege, die von einem reaktionären Begriff der Staatsraison geradezu besessen sind. Sie stellen das Recht des Staates über das seiner Angehörigen. Diesen Betonköpfen ist nicht zu verdanken, daß die Bundesrepublik durch die Jagd auf 20 RAF- Leute nicht in ein totalitäres Unrechtsregime verwandelt wurde. Die Tendenz zur Überreaktion auf die RAF, die sich bis auf den heutigen Tag — wie zuletzt in der Reaktion des CDU-Bundestagsabgeordneten Gerster auf die mögliche Freilassung der Gefangenen nachweisen läßt —, wurde hauptsächlich durch die internationale Öffentlichkeit gezügelt.
Dem politischen Journalismus in der Bundesrepublik muß ein nahezu völliges Versagen vorgeworfen werden. Ohne diesen Beitrag der bundesdeutschen Journalisten als ehrenamtliche Sprecher von BKA und Bundesanwaltschaft ist die 21jährige Geschichte der RAF nicht denkbar. Warum sind bundesdeutsche Journalisten in ihrer Kritik an unseren Politikern und unseren Sicherheitsapparaten nicht so radikal, wie sie sich in ihrer Kritik an den entmachteten DDR-Machthabern und der aufgelösten Stasi präsentieren?
Daß CDU-Politiker wie Johannes Gerster oder die CDU-Fraktionsvorsitzenden in Niedersachsen und NRW jede Gelegenheit nutzen, um in ihrem kleinkarierten Gerangel mit der SPD-Konkurrenz politisches Kapital zu gewinnen, kann man irgendwo nachvollziehen. Von diesem Politikverständnis wurde die bundesdeutsche Geschichte der letzten vierzig jahre geprägt. Was wir nicht hinnehmen können, ist ein politischer Journalismus, der es Politikern erlaubt, in der normalen Haftentlassung von Gefangenen nach 15 Jahren Gefängnis Signale zu erkennen, „die als Erpreßbarkeit des Staates aufgefaßt werden könnten“ ('Welt‘ vom 2.1.).
Wer in den Parlamenten, in der Bundesanwaltschaft und im BKA eine friedliche Lösung des Konfliktes Staat-RAF verhindern will, ist bekannt. Eine unbekannte Größe in dieser Auseinandersetzung ist die RAF. Wir wissen nicht, wer die Personen sind, die heute in der RAF organisiert sind. Beim Bemühen, sie zu verstehen, können wir uns nur an ihre Taten halten und an das, was sie zu deren Rechtfertigung sagen. Das RAF-Kommando, das den Treuhand-Chef Detlev-Carsten Rohwedder ermordete, schrieb am Ende der Erklärung zu diesem Mord: „eine revolutionäre bewegung, der die gefangenen nicht am herzen liegen, kann es nicht geben.“ Wenn die RAF mit und in diesen Worten ernst zu nehmen ist, muß sie die Beendigung ihres bewaffneten Kampfes erklären, um den Weg für die Freilassung aller Gefangenen freizumachen.
Es hat in den letzten Jahren sehr viele Initiativen gegeben, um in den festgefahrenen Konflikt zwischen Staat und RAF Bewegung zu bringen. Zu nennen ist die Gruppe um Antje Vollmer von den Grünen, viele Initiativen aus den Kirchen und aus SPD und FDP. Mit Klaus Kinkel hat diese Bundesrepublik zum ersten Mal einen Justizminister, der zumindest in dieser Frage eine Zivilcourage an den Tag legt, die in der Bonner Geschichte ihresgleichen sucht. Alle, die in den vergangenen Jahren mit Verantwortlichen in Bonn sprachen, mußten immer wieder hören, man habe sehr wohl eingesehen, auch auf seiten des Staates bei der Bekämpfung der RAF Fehler gemacht zu haben. Damit sind nicht die sogenannten Fahndungspannen gemeint, sondern die Haftbedingungen, die Prozesse in Sondergerichtsgebäuden und die Verabschiedung von Sondergesetzen im Eilverfahren. Aber keiner der Angesprochenen war bereit, dies öffentlich zur Diskussion zu stellen. Die Bonner Standardrechtfertigung: Dafür hänge ich mich doch nicht aus dem Fenster! Die politische Öffentlichkeit hat die Pflicht, dieses Fenster aufzumachen. Klaus Jünschke
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