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DEBATTEWohin treibt Algerien?

■ Die eigentliche Opposition ist nicht die FIS, sondern die frustrierte Jugend

Mit jeder Nachricht erfahren wir von neuen Toten, jedes neue Ereignis verspricht neue Opfer. Wohin treibt Algerien? Richtung Bürgerkrieg, wenn es da nicht schon drin ist. Werden diese jungen Leute, die sich unter Lebensgefahr den Streitkräften entgegenstellen, manipuliert? Vielleicht. Aber ehrlichkeitshalber müssen wir auch zugeben, daß seit der Unterbrechung des demokratischen Prozesses die ärmeren Viertel zu wahren Dampfkesseln geworden sind. Ein veritables Pulverfaß, das zu entzünden ein kleiner Funken genügte. Die Islamische Heilsfront (FIS) ist zum Hauptangeklagten avanciert. Aber wer weiß, ob diese Partei sich nicht damit begnügt, einer Bewegung zu folgen, die sie nicht mehr kontrolliert?

Die FIS hat gewiß das ihrige dazu beigetragen. Wer könnte das leugnen? Aber man darf nicht vergessen, daß infolge der Ereignisse im Oktober 1988 [blutig niedergeschlagene Jugendrevolte, d.Red.] die Explosion vorhersehbar war und nur einen Auslöser brauchte, um ihre Eigendynamik zu entwickeln. Vielleicht hat man es ja vergessen: Viele Jugendliche setzten große Hoffnungen in die Wahlen, und daß sie um einen sicheren Sieg betrogen worden sind, konnte ihre Frustration nur verschärfen! Konnte man erwarten, daß sie ruhig bleiben würden, nachdem man mitten in der Partie die Spielregeln geändert hatte? In der Presse wurde von der Neuordnung der „politischen Landschaft“ gesprochen. Aber in Wirklichkeit tut man so, als ob es keinen ersten „sauberen und freien“ Wahlgang gegeben hätte. Noch schlimmer: Man sucht angeblich „richtige Antworten auf die falschen Lösungen, die die FIS anbietet“. Das ist pure Scheinheiligkeit! Nachdem man alles mögliche versprochen hatte, hieß es plötzlich: „Stopp. Jetzt wird unter die Vergangenheit ein Schlußstrich gezogen. Tabula rasa.“ Aber diese „Vergangenheit“ ist da, lebendig und läßt sich nicht so leicht beerdigen, wie man möchte! Gewiß kann man noch weitere Maßnahmen ergreifen. Man könnte etwa die FIS verbieten, den Ausnahmezustand verhängen, jede parteipolitische Tätigkeit suspendieren. Aber das Problem der Legitimation wird bleiben. Die Ordnung wird sicher wiederhergestellt werden — aber zu welchem Preis? Und sie wird zu jedem beliebigen Zeitpunkt wieder erschüttert, solange die staatlichen Organe ihr Legitimitätsdefizit nicht beheben. Man wird vergebens an die Eltern appellieren, ihre Zöglinge an die Leine zu nehmen. Diese hören schon längst nicht mehr auf jene. Nein, die jungen Algerier haben die Resignation verlernt, die das Schicksal ihrer Eltern war.

Der Bruch ist da, offen und nicht hinwegzuleugnen. Diese Jugend, die gegen das System aufbegehrt — und nicht einfach für die FIS auf die Barrikaden geht — akzeptiert dessen Aufrechterhaltung in neuem Kostüm nicht mehr. Man kann zwar die Organisation der FIS auflösen, aber nicht eine gesellschaftliche Wirklichkeit.

Diejenigen, die von Amts wegen über das Schicksal Algeriens befinden, müssen einen Terminplan festlegen, um die Gesellschaft mit dem Staat auszusöhnen. Man muß schnell aus dieser krankhaften Lähmung herauskommen und diesen Teufelskreis durchbrechen.

Das heutige Algerien ist das Produkt eines Systems, das sich als unfähig, verantwortungslos und verdorben erwiesen hat. Algerien geht mit dem Wunsch nach einem endgültigen Bruch schwanger, und man muß Sorge tragen, daß die Geburt nicht allzu viel Schmerzen bereitet. Der schlimmste Fehler wäre, die Mutter zu töten, um so die Geburt um jeden Preis zu verhindern. Man möchte gern glauben, wie gewisse Kollegen schreiben, daß die FIS ihre letzten Trümpfe ausspielt. Vor allem aber ist zu befürchten, daß Algerien sein letztes Porzellan zerbricht, wenn es nicht auf dem Weg eines Dialogs eine Antwort auf seine Probleme findet. Djaafer Said

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