DEBATTE: Schnittmenge Stamokap
■ Neue soziale Fragen im Osten geht die SPD mit alten Antworten an
Kein Zweifel: Seit der deutschen Wiedervereinigung scheinen die politischen Regeln auf den Kopf gestellt. Die CDU mit ihrem Kanzler, dessen Hauptqualität angeblich im Aussitzen bestand, hat den Einigungsprozeß mit Entschlußfreude und Tatkraft bewältigt und die Weichen für die zukünftige marktwirtschaftliche Umstrukturierung der desaströsen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der ehemaligen DDR gestellt. Ganz nebenbei gelang es ihr, ein scheinbar unabänderliches Diktum der politischen Systemanalytiker aus der Zeit vor dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa auf den Kopf zu stellen. Einhellig war man noch Mitte der achtziger Jahre der Meinung gewesen, ein Systemwechsel in Osteuropa würde zu einem gewaltigen Aufschwung der europäischen Sozialdemokratie führen. Das genaue Gegenteil ist der Fall.
Inzwischen scheint die erfolgreiche Innenpolitik der CDU ins Stottern gekommen zu sein. Der Preis der Einheit ist sehr viel höher als ursprünglich versprochen. Die CDU hat kein Konzept, wie die Umverteilungen denn nun politisch gestaltet werden sollen, und läßt sich zusehends treiben von populistischem Nachgeben gegenüber den Stimmungen in der Bevölkerung: Im Osten neigt man offensichtlich in einer breiten Koalition aller dazu, für den Erhalt der Arbeitsplätze auch die schlimmste aller Kröten zu schlucken, die Weiterführung der alten Kombinate in Staatshand.
Im Westen nimmt die Bereitschaft zur Solidarität ab, weil man nicht einzusehen vermag, daß Geld in den Erhalt maroder Staatsindustrien ohne Zukunft gesteckt werden soll. Diesen Zusammenhang hat Kurt Biedenkopf kürzlich in einem Interview durchaus treffend formuliert: Die Solidarität des Westens könne man nur einfordern, wenn im Osten wirklich ernste Anstrengungen zur Umgestaltung unternommen würden. Die schlichte Umwandlung von ehemaligen VEBs in BRD-Staatsbetriebe ist nun gerade kein Indiz für solchen Umgestaltungswillen. Alles in allem also steht die Innenpolitik der Regierung konzeptionell auf unsicherem Grund.
Trotzdem ist dies nicht die Stunde der Opposition. Und daran ändern Verluste der CDU und Erfolge der SPD bei Landtagswahlen auch nichts, denn es erweist sich ja doch im Bundesrat, daß die SPD zu einer strukturierten und konstruktiven Opposition, aus der sich eine realistische Alternative zum herrschenden Regierungsbündnis abzeichnen würde, nicht fähig ist. Die Sozialdemokratie taumelt statt dessen orientierungslos zwischen vollkommen divergierenden Bezugspunkten, zwischen einer europäischen und einer mehr deutsch-nationalen Option hin und her — Tenor: Wir lassen uns doch nicht von Brüssel unsere Werften kaputtmachen. Zur zweifelsfrei fälligen und notwendigen Modernisierung des Wohlfahrtsstaates und seiner Anpassung an die Gegebenheiten der neunziger Jahre fällt ihr noch weniger ein als der anderen großen Volkspartei. Das hat natürlich Gründe, die tiefer liegen als nur in der dünnen Personaldecke.
Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus ist auch die Idee der Gerechtigkeit als eine neben der Freiheit gleichberechtigte konstitutive Idee gescheitert. Gerade auf die Notwendigkeit eines Ausgleichs zwischen Freiheit und Gerechtigkeit hatte sich die allmähliche innere Reformierung der SPD in den achtziger Jahren (Stichwort: neue Mittelschichten) weg von der Gewerkschaftspartei hin zu einer mehr an der Demokratie im allgemeinen interessierten politischen Partei gestützt. Nun fällt, auf der Ebene der politischen Semantik, die Notwendigkeit der Gerechtigkeit weg. Man kann es auch anders sagen: Die Menschen in Osteuropa optierten für die Freiheit— ohne Wenn und Aber. Jene hingegen, die in Osteuropa die neue gesellschaftliche Differenzierung im Namen der Gerechtigkeit tout court kritisieren, werden nicht zu Unrecht als verkappte — oder offene — Nostalgiker der alten diktatorischen Zustände kritisiert.
Die geistige Nähe der SPD zum Kommunismus
Gerechtigkeit ist nach allem, was gerade im Zusammenbruch der kommunistischen Systeme sichtbar wurde, als politischer Wert zunächst einmal gründlich diskreditiert. Der ungarische Systemkritiker István Eörsi, ein deklarierter Linker, beschreibt das sehr schön. Nach 1956 wegen seiner Teilnahme an der ungarischen Revolution eingesperrt, verficht er weiter das Ideal eines wahren Kommunismus gegen die falschen Kommunisten um Kadar. Mag ja sein, so wendet einer seiner Zellengenossen ein, aber trotzdem ist es ein Segen, daß die wahren Kommunisten nicht regieren, denn die sind noch hungrig. Damit ist aber das ganze tragende Konstrukt sozialdemokratischer Politik in Deutschland perdu. Und das in einer Zeit, da es ganz offenkundig wenigstens im Osten Deutschlands eine massive soziale Frage gibt.
Was die SPD nicht begreift, ist, daß die soziale Frage in Ostdeutschland eine neue ist, für die die alten Antworten nicht taugen. Gerade ihr stures Festhalten am bewährten Alten jedoch ist es, das die intime geistige Nähe nicht weniger sozialdemokratischer Grundannahmen zur kommunistischen Auffassung von (Sozial-)Politik sichtbar macht. Kernüberzeugung nicht nur des linken Flügels der Sozialdemokraten ist die These vom staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap). Gewiß, sie vertreten das nicht so, wie es die Handbücher der alten SED-Größen von Günther Mittag bis Fred Oelßner lehrten, aber in der Konsequenz führte (und führt) ihre Einteilung der Welt in die — guten und anspruchsberechtigten — vorzugsweise Arbeitnehmer und die — vor allem zu kontrollierenden und zu bändigenden — Unternehmer zu einer ähnlichen Sicht und Einteilung der politischen Welt. Nicht die Freiheit des einzelnen, sich entscheiden zu können (wobei diese Freiheit selbstverständlich durch Menschenrechte etc. kanalisiert und begrenzt ist und bleibt), sondern eine als richtig erachtete Gesamtordnung wird zum Maßstab der Politik. Aus diesem Blickwinkel macht den Unterschied zwischen SPD und SED weniger ein qualitativer Unterschied der Inhalte als die Bewertung der Gewalt als Mittel der Politik aus.
Die SPD ahnt, daß hier ein springender Punkt liegt — und verweigert daher ganz konsequent die Aufarbeitung der SED-Diktatur als ein Massenphänomen. Lieber konzentriert sie sich — mit den rechtsstaatlich und rechtstechnisch zweifelhaften Mitteln etwa der Berliner Senatorin Limbach — darauf, unter recht fadenscheinigen Vorwänden der Oberen im SED-Staat habhaft zu werden. Aber selbst diese Form eines — wie ich es sehe — sozialdemokratischen Übereifers in der Abgrenzung zu den SED-Größen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die SPD das gesamte Grundmuster ihrer Politik wird erneuern müssen, um über die Politik auch die Regierungsfähigkeit zurückzugewinnen.
Eben weil die SPD mit der Wiedervereinigung ihre Erneuerung abgebrochen und ihre gerade begonnene Emanzipation von den Gewerkschaften nicht nur nicht weitergeführt, sondern umgekehrt hat (siehe die Ernennung Blessings), ist sie heute nicht einmal in der Lage, die Rolle der Opposition zu besetzen. Wenn man so will, dann kommt die wirkungsvollste Opposition zur Regierung aus der Regierungspartei selbst — und trägt Namen wie Biedenkopf oder Rommel. Die Unfähigkeit der SPD zu einer konzeptionellen Oppositionspolitik bringt das wiedervereinigte Deutschland auf den unguten Weg einer Demokratie ohne echte Alternative.
Vieles spricht dafür, daß die SPD zu einer wirklichen Umkehr nicht bereit ist. Sie scheint vielmehr auf eine Alternative zu setzen, die keine ist: Stimmenfang in der Ex-DDR mit einem nationalkonservativen Sozialstaatspopulismus des Ancien régime. Selbst wenn sie damit in Ostdeutschland Erfolg hätte: Im Westen würde sie definitiv die parteipolitische — und gesellschaftliche — Koalitionsfähigkeit verlieren — und würde einem demagogischen Poujadismus [Säzzerinnenservice: nach dem franz. Politiker Poujade, geb. 1920 benannt; aus der wirtschaftlichen Unzufriedenheit der Bauern u. kleinen Kaufleute entstandene populistische Bewegung in Frankreich.] damit Tür und Tor öffnen. Verlierer einer solchen Konstellation wäre vor allem die Demokratie. Ulrich Hausmann
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