DAS MASSAKER VON NANTERRE WIRD IM WAHLKAMPF INSTRUMENTALISIERT: Unwürdige Politiker
In extremen Situationen zeigt sich, wie belastbar Menschen und wie fest politische Überzeugungen tatsächlich sind. So auch beim Massaker eines Amokläufers im Rathaus von Nanterre. Es offenbarte eine republikanische und rechtsstaatliche Reife und Würde, wie sie außerhalb Frankreichs in vergleichbaren Situationen kaum vorstellbar wäre. Das gilt nicht nur für die überlebenden Ratsfrauen und -herren, sondern auch für die Journalisten und die überwiegende Mehrheit der Politiker, ja für die Franzosen überhaupt.
Am beeindruckendsten sind die Opfer, die überlebten. Schon in der Mordnacht haben sie die Ruhe bewahrt und darüber hinaus mit ihrem tatkräftigem Eingreifen ein noch schlimmeres Blutvergießen verhindert. Die Überlebenden haben FreundInnen sterben sehen, manche sind selbst durch Schüsse verletzt worden. Doch keineR dieser Ratsfrauen und -herren – weder auf der Linken in dem seit Jahrzehnten kommunistisch regierten Rathaus noch auf der Rechten – hat seither öffentlich auch nur ein einziges Wort des Hasses gesagt. Niemand hat nach Rache verlangt. Und niemand nach einer Verschärfung der geltenden Gesetze oder gar der Todesstrafe.
Die Ratsfrauen und -herren von Nanterre haben auf bewundernswerte Weise Pathos vermieden. Sowohl gegenüber dem Täter als auch in der Beschreibung ihrer eigenen Gefühle. Es begann in dem Moment, als Bürgermeisterin Jacqueline Fraysse noch in der Mordnacht von der „Person, die geschossen hat“, sprach. Und es geht weiter damit, dass die Verletzten jetzt von einem „kranken Täter“, von dem „isolierten und unvorhersehbaren Akt eines Wahnsinnigen“ sprechen.
Die Instrumentalisierung des Massakers ging nicht von Nanterre aus. Sie begann an der Spitze des Staates Frankreich. Es war Staatspräsident Jacques Chirac, der das Massaker in einen direkten Zusammenhang mit seinem Wahlkampf und mit dessen Hauptthema, der inneren Sicherheit, stellte. Noch in der Mordnacht will er einen „direkten Zusammenhang“ zwischen geringfügigen Straftaten und dem Massaker von Nanterre entdeckt haben. Inzwischen tun es ihm andere rechte Wahlkämpfer gleich.
Der Selbstmord unter Polizeiaufsicht bedeutet neben der politischen Vereinnahmung jetzt noch einen zusätzlichen Schlag für die Opfer. Sie, die mit großer Würde reagiert haben, sind jetzt mit einem Versagen der zuständigen Behörden konfrontiert. Der Staat, die Polizei, die Justiz sind ihnen Erklärungen schuldig. Sie müssen den Opfern und allen Franzosen beweisen, dass ihre Institutionen trotz der Panne auf dem republikanischen und rechtsstaatlichen Niveau des Volkes sind. DOROTHEA HAHN
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