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Cry Freedom

■ „Religiöse Invasion in die DDR“, Mi., ZDF, 22.15. Uhr

Der Anthroposoph erläutert einen komplizierten Sachverhalt: „Der Mensch erlebt den lebendigen Prozeß im Inneren, wenn Wahrnehmung in geistiger Weise in seinen Organismus strömt. Sie können das erleben, z.B. bei einer Aufmerksamkeitsübung. Gerade wenn Sie so bleiben und Sie plötzlich in einer Ablenkung aufwachen. Sie sind sehr konzentriert auf diesen Satz: Die Weisheit lebt im Licht. Und plötzlich denken Sie an Bananen.“

Treffender läßt sich der „lebendige Prozeß im Inneren“ tatsächlich nicht formulieren. Es geht um Weisheit und Bananen. Letztere lassen sich erfahrungsgemäß gut absetzen. Für die Weisheit wird gerade der Markt erschlossen.

Wander-, Wunder-, Geist- und Scheinheiler, Spiritisten und Handaufleger sind auf dem Vormarsch. Den fruchtbaren Boden des ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaats teilen sie unter sich auf. Pfarrer Thomas Gandow, evangelischer Sektenbeauftragter in Berlin, kann nur hinterherlaufen und die täglich neuen Plakate mit täglich neuen Versprechungen einsammeln und in Pappordnern archivieren.

Die etablierte Kirche führt Rückzugsgefechte und fährt im neuen Golf Diesel; die Hare Krishnas kochen vegetarische Reisgerichte. Drei DDR-Jugendliche werden nach ihrem Bedürfnis nach Religiösität befragt (traditionelle Kulturberichterstattung, von wegen Rede und Gegenrede). Einige wirklich schrille Aufnahmen gelingen. Zum Beispiel der penetrante Schnellredner, der ganze drei Zuhörer mit dem Mikro belabert, als gelte es, am Kaufhauseingang nicht brennbare Wollsocken zu verkaufen. Oder die perfiden Amis, die zu jedem, also auch zum religiösen Anlaß, ihren blöden Showtanz aufführen müssen.

Doch wenn's ans Eingemachte geht und die tatsächlichen Zusammenhänge benannt werden sollen, nimmt sich der ZDF Kontext-Beitrag nicht minder scheinheilig aus. Vollkommen klar, daß dieser religiöse Sumpf aus Blutsaugern und Bauernfängern besteht. Aber sie richten sich allesamt nach den Gesetzen des freien Marktes. Sonnenklar, daß im Zuge des ohnmächtigen Tempos der Wiedervereinigung nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch die im Entstehen begriffene mentale Infrastruktur der DDR auf der Strecke bleiben muß. Da gibt es nichts zu deuteln.

Die (wertfrei gemeinte) naive Unerfahrenheit des DDR-Volks ist geradezu ein Zerrspiegel des westlichen Freiheitsbegriffs. Wie verzerrt und doppelbödig dieser Freiheitsbegriff ist, zeigte erst recht das prätentiöse und perfide Resümee der Sendung: „Wo sich neue Führer an Stelle der alten aufdrängen (die religiösen im Kielwasser der wirtschaftlichen); wo Suchende zur Unterwerfung genötigt werden (buy or die!); wo Glaubensgemeinschaften kommerzielle Ziele verfolgen - Freiheit hat eben ihren Preis (Fragt sich nur, WER den bezahlen muß!) - doch sie bietet auch die Chance zur Selbstverwirklichung (z.B. in einem solch einseitigen Filmbeitrag) - die eigene Entscheidung kann einem niemand abnehmen (weil alles schon entschieden ist). In diesem Sinne.

Rie

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