Corona und Vergangenheitsbewältigung: Alles ist Bonuszeit

Unsere Autorin hat eine Immunschwäche und ist in einer Sekte aufgewachsen. In der Quarantäne holt die Vergangenheit sie ein.

Baum, der rosa Blühten trägt. Fotografiert bei Nacht

Da blüht etwas – aller Angst zum Trotz Foto: Jörg Gläscher/laif

Ich bin in Quarantäne aufgewachsen. Nicht weil ich krank war, das wurde ich erst später, sondern weil ich in eine Sekte hineingeboren wurde. Knapp drei Handvoll Menschen, geschart um einen aus allen Nähten an Speck und Bedeutsamkeit platzenden Arzt; nennen wir ihn „Trigger“. Er hatte einen Hang zu betrunkenen Autofahrten und grausamen Regeln.

Wir mussten vor ihm auf die Knie gehen. Wir durften die Stadt nicht verlassen, keine Freunde haben und Trigger nicht in die Augen schauen – er war zu heilig. Trigger verdammte Demokratie und „Rassenvermischung“. Er sah überall Feinde: Die Kirche hörte angeblich unsere Telefone ab, Politiker waren Dämonen, die uns vernichten wollten, und Ärzte – bis auf Trigger selbst, versteht sich – waren zu meiden, weil ihre Medikamente tödlich waren. Eine Auffassung, die zwei Mitglieder unserer Gruppe später das Leben kosten würde. Der Weltuntergang stand jeden Tag aufs Neue vor der Tür. Es war unsere Aufgabe, ihn abzuwenden.

In meiner Kindheit gab es keinen Urlaub und keine Ausflüge. Ich bin nie auf einen Baum geklettert, konnte weder schwimmen noch Fahrrad fahren. Ich wusste nicht, wie sich Sand unter den Fußsohlen anfühlt oder wie Möwenschreie klingen. Ich kannte die Weite der Berge ebenso wenig wie die behagliche Enge von Zugabteilen und Zelten. Mein erstes Buch war ein Lexikon: Ich wollte wenigstens Wörter kennenlernen, wenn schon Orte verboten waren. Ich musste ein Jahr lang dafür kämpfen.

Danach arbeitete ich mich zu Märchen und Sagen vor. Ging auf Odyssee, hüllte mich in Mios weichen Unsichtbarkeitsumhang, durchritt mit Parzival die Fremde auf der Suche nach dem Heiligen Gral. Ich liebte Geschichten, in denen der Held sein Zuhause verlassen musste, um glücklich werden zu können.

In der Welt, in der ich lebte, waren Abschiede lebensgefährlich. Wer ausstieg, wer sich auch nur einen Zweifel erlaubte, verkündete Trigger, der würde sterben. Er würde erst verarmen und alle Freunde verlieren, dann schwer erkranken und in der Gosse unter unvorstellbaren Schmerzen krepieren. Ich war fünf Jahre alt, als mir klar wurde, dass ich Zweifel hatte. Also fing ich an, auf den Tod zu warten. Es brauchte jahrzehntelange Therapie, um damit aufzuhören.

Das war der Moment, in dem ich Angst bekam

Ich habe eine Immunschwäche. Absurderweise wähnte ich mich genau deswegen gerüstet gegen Covid-19. Ich tat das Virus über Wochen und Monate hinweg als Grippeäquivalent ab, dem ich mit meinen üblichen Vorsichtsmaßnahmen begegnen konnte: Einkaufen nicht vor 22 Uhr oder sehr früh morgens. Aufenthalt in Bus und Bahn nicht länger als fünfzehn Minuten. Schal um Nase und Mund. Handschuhe auch bei warmem Wetter. Dann kamen die Nachrichten aus Italien: Menschen, die in überfüllten Krankenhäusern starben, ohne ihre Lieben noch einmal umarmen oder auch nur sehen zu dürfen. Das war der Moment, in dem ich Angst bekam, dass Covid-19 die von Trigger prophezeite Apokalypse sein könnte.

Prophezeiungen sind wie Horoskope: Man selbst füllt die Leerstellen aus, man selbst erzählt sich eine Geschichte, die schrecklich viel Sinn ergibt. Meine Immunschwäche hat mir allein im letzten Jahr 26 Infektionen, 10 Runden Anti­bio­se und ein Isolierzimmer im Krankenhaus beschert. An Arbeit war kaum zu denken gewesen; das mit der Verarmung, dem ersten Indiz für meine ganz private Apokalypse, passte also, und das mit der Vereinsamung auch. „Jetzt“, dachte ich, während die Headlines immer lauter um Aufmerksamkeit buhlten, „jetzt hat es angefangen.“

Die Drohungen, mit denen ich aufgewachsen bin, fühlten sich an wie Zaubersprüche: Magisch und wahr. Aber Magie ist ein Wahnsystem; es funk­tio­niert nur, wenn alle stillhalten. Sobald nur einer sich weigert, mitzumachen, wird es zu Staub zerfallen. Erst als sich die Angst in meinem Nacken festbiss, erst als sich Triggers feistes Gesicht wieder in meine Träume schlich, wurde mir klar, dass ich nie aufgehört hatte, mitzumachen. Ich habe nie wirklich Abschied vom Glauben meiner Eltern genommen. Bis jetzt.

Die Psychologin Verena Kast beschreibt Trauer als vierstufigen Prozess: 1. Nicht-Wahrhaben-Wollen, 2. Aufbrechende Emotionen, 3. Suchen und Sich-Trennen, 4. Neuer Selbst- und Weltbezug. Die erste Phase hat bei mir 30 Jahre gedauert, die zweite fünf Jahre. Absurderweise erleichtert es mir der Lockdown, Abschied zu nehmen: Er erinnert mich an alles, was geholfen hat, meine Kindheit zu überleben.

Die erste Strategie heißt Verbindung. Wenn andere außer sich geraten, wird es in mir still. Ich habe früh gelernt, hinter Verrücktheit und Grausamkeit auch den Schmerz meines Gegenübers wahrzunehmen. Schmerz war meine einzige Möglichkeit, Verbindung zu anderen zu spüren, und Verbindung war Trost. Ich suche bis heute in jeder Begegnung nach einem verbindenden Element, auch wenn es manchmal lange dauert. Der trotzige Glaube an einen gemeinsamen Boden trägt mich auch jetzt. Was uns alle derzeit verbindet, ist Angst.

Auch die Instagrammer, die mit einem Avocadotoast auf der Couch sitzen und ein kollektives Trauma für sich in Anspruch nehmen, weil ihnen das Menschenrecht auf Aperol Spritz im Biergarten genommen wurde, haben Angst. Auch die Lyriker, die bei Facebook ihre vom Waschen strapazierten Hände präsentieren und beklagen, dass ihre Corona-Soundpoeme immer noch nicht als systemrelevant deklariert wurden.

Auch die Solo-Selbstständigen, die Fördergelder beantragen können, während Senioren und Vor­er­krankte keinen Zuschuss für ihre Grundsicherung erhalten. Auch die Kreativen, die vollmundig in Vlogs und Podcasts beschreiben, wie sie zu zerbrechen drohen, während dort draußen tatsächlich Menschen zerbrechen, leise und ungehört, in zu kleinen Wohnungen mit gewalttätigen Familienmitgliedern, im Krankenhaus oder auf der Straße.

Ich habe gelernt, mit mir allein zu sein

Ich glaube, dass aus dieser Angst Verständnis entstehen kann. Ich glaube, dass die Mehrheitsbevölkerung jetzt zum ersten Mal die Belastung jener Menschen erahnt, die aufgrund von Behinderung oder Erkrankung ohnehin nicht am „normalen“ Alltag partizipieren können. Die aufgrund fehlender gesundheitlicher und finanzieller Ressourcen, vor allem aber aufgrund gesellschaftlichen Desinteresses in die Unsichtbarkeit gerutscht sind. Jetzt, wo Gefühle der Einsamkeit und der Fragilität ein Mehrheitsproblem geworden sind, besteht die Chance, dass auch jene gehört werden, denen man vorher nicht zugehört hat.

Die zweite Strategie klingt profan: Ich habe gelernt, mit mir allein zu sein. Bevor ich lesen konnte, erdachte ich Feen und Kobolde, die nachts zwischen den Vorhangspalten hervorlugten und mir Geschichten erzählten. Tagsüber starrte ich in die Wolken oder beobachtete die Eichhörnchen, die einander stammauf, stammab durch den Garten jagten. Auch der kleine Grünfleck hinter dem Haus, in dem ich jetzt lebe, beherbergt einen Baum.

Ich bin bereit, ein weiteres Mal die Jahreszeiten in ihm vorüberziehen zu sehen. Ist es draußen warm und sonnig, öffne ich die Flügeltüren des Wohnzimmerfensters und lege mich auf meine Yogamatte, extended „Shavasana“ sozusagen; übersetzt heißt dieses Wort „Todesstellung“. Das Licht fällt auf mein Gesicht, auf meine geschlossenen Augen: Das ist mein Gebet, ein Gebet ohne Gott, und es bringt mir Frieden.

„Wir sind immer fertig, wir sind nie fertig“, schrieb Roger Willemsen. Es gibt kein Recht auf Leben, alles ist Bonuszeit. Wenn wir Glück haben, gibt es Menschen, die etwas in uns zum Schimmern gebracht haben. Wenn wir Glück haben, sind wir mehr geworden, als uns genommen werden kann.

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