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Corona: Queere Community verunsichertDie Krise meistern

Die Existenz der queeren Infrastruktur steht wegen Corona auf dem Spiel. Wie wird queeres Leben nach der Krise aussehen? Eine erste Bestandsaufnahme.

SchwuZ-­Geschäftsführer Marcel Weber: „Wir werden die Letzten sein, die wieder aufmachen“ Foto: Anja Weber

Berlin taz | Der neueste Streit in Berlins queerer Community begann am Abend des 15. April, zeitgleich mit der politischen Entscheidung, auch in Berlin wegen der Coronakrise bis Ende August keine Großveranstaltungen stattfinden zu lassen. Er entspann sich um jene Frage, über die Berlins Schwule, Lesben, Bisexuelle, Trans* und Inter* seit über 40 Jahren am liebsten streiten: Was wird aus dem Christopher Street Day, dem Berliner CSD?

Der seit Februar sich neu im Amt befindende Vorstand des CSD-Vereins hatte gleich nach der Entscheidung angekündigt, den CSD „wirkmächtig digital zu stellen“. Für den bekannten schwulen Blogger und Aktivisten Johannes Kram ein Unding. Auf Facebook wetterte er: „Der CSD als Marke, die irgendwo stattfinden muss. Dann halt im Internet. So ein Blödsinn. Ja, man kann eine Cola-Marke auch im Internet inszenieren. Aber man kann keine Cola im Internet trinken.“

Seitdem wird diskutiert. Im Gespräch mit der taz sind Vorstand Ralph Ehrlich und Vorständin Dana Wetzel sichtlich um Schadensbegrenzung bemüht. „Natürlich werden wir nicht nur auf Facebook ein Fähnchen schwenken“, sagt Ehrlich, „der virtuelle CSD soll genauso vielfältig werden wie der reale. Wir arbeiten an neuen Konzepten, Künstler*innen, Aktivist*innen werden zu Wort kommen. Wir sind auch mit großen Fernsehanstalten im Gespräch.“ Und Wetzel glaubt: „Man hat die Chance, online sogar mehr und andere zu erreichen, die sonst nicht auf einen CSD gehen. Die allermeisten können sich noch nicht vorstellen, was wir vorhaben.“

Doch auch dem CSD-Vorstand ist klar: „Eine digitale Demo mit all den Emotionen, das kriegt man einfach nicht hin!“ Und darum, sagt Wetzel, werden die Maßnahmen „der aktuellen Lage ständig angepasst, und sollte bis dahin etwas möglich werden, werden wir es auch sofort umsetzen. Und sei es auch nur eine Aktion mit bis zu 50 Personen. Wir werden immer das Maximale rausholen, was rechtlich möglich ist. Die Botschaft ist uns wichtig!“

In vier Jahrzehnten aufgebaut

Der Streit über die Zukunft des CSD 2020 spiegelt die tiefe Verunsicherung, die Berlins queere Community seit dem Beginn der Coronakrise erfasst hat. Im Mahlstrom der Ereignisse droht fast alles vernichtet zu werden, was Aktivist*innen in über vier Jahrzehnten an Strukturen aufgebaut haben. Dazu kommen Ängste und seelische Ausnahmesituationen für viele Menschen aus einer auch in weniger krisenhaften Zeiten äußerst vulnerablen Gemeinschaft.

Eine von denen, Berlins größte Dragqueen, Gloria Viagra, mit Stöckeln um die zwei Meter zehn groß, sitzt die Coronakrise auf ihrer kleinen Datsche aus und überlegt, sich einen Halbtagsjob zu suchen. Noch überbrückt die Soforthilfe des Berliner Senats die auftrittslose Zeit. Doch schon die Bundeshilfe sei für freie Künstler*innen schwachsinnig, sagt Gloria, „denn wir haben weder Büromieten noch Leasingverträge zu laufen“.

Viagras größte Sorge aber: Wie wird queeres Leben in Berlin nach der Krise sein? „Noch halten alle durch, aber langsam geht es los mit Insolvenzen, persönlicher Verelendung. Ob unsere Clubs, unsere Bars, unsere Medien durchhalten?“

Spendenaktion fürs Magazin

Seit 1984 ist die Siegessäule de facto das Zentralorgan, erst der schwulen, dann der schwullesbischen und heute der queeren Community der Stadt. Das Monatsmagazin mit über 50.000 Auflage und Hunderten von Verteilstationen überall in Berlin steht mitten in der größten Krise seiner fast 40-jährigen Existenz.

„Die Absage des Straßen-CSD macht die Lage für uns erheblich schwerer“, sagt Manuela Kay, eine der beiden Inhaberinnen des Verlags. Die CSD-Saison ist jeden Sommer der große Umsatzbringer. Seit Mitte März sind dem Magazin nicht nur 80 Prozent des Anzeigenvolumens weggebrochen, sondern auch ein großer Teil des Vertriebsnetzes. Die Verlegerinnen sahen sich gezwungen, eine Spendenaktion ins Leben zu rufen (taz berichtete).

Unerwartete Unterstützung kam von dem Fotografen Wolfgang Tillmans, der, so beschreibt es Manuela Kay, „wie ein Engel dahergeschwebt kam und Künstler zusammenscharrte, deren Kunstwerke an jene gehen, die uns mit Geld unter die Arme greifen“. 150.000 Euro ist das Spendenziel, aber auch diese Summe würde die Siegessäule nicht bis zum Jahresende tragen, wenn die CSD-Saison ins Wasser fällt.

Manuela Kay, Mit-Inhaberinnen des Magazin „Siegessäule“, vor der Bar Roses in der Oranienstraße Foto: Anja Weber

Immerhin: Das Maiheft wird gedruckt und Berliner Firmen zeigen sich darin solidarisch, indem sie gegen Geld ihre Logos abdrucken. Und die Hoffnung bleibt, dass Anzeigenkunden während der CSD-Saison weiterhin Flagge zeigen wollen. „Gut tut uns, dass wir gerade viele rührende Botschaften erhalten und Solidarität erleben.“ Für Kay geht es in der Corona­krise nicht nur um ihren Verlag und seine Mitarbeiter*innen, sondern um die Institution als solche: „Wenn die,Siegessäule' untergeht, geht ein wesentlicher Bestandteil der LGBT-Community unter!“

Sylvio Jaskulke betreibt die Scheune in Schönebergs Motzstraße, mitten im schwulen Kiez. Die Gegend um den Nollendorfplatz war schon vor Corona in schwerem Fahrwasser: Mieterhöhungen und Gentrifizierung, Probleme mit Taschendieben. Gerade erst war ein durchaus kontrovers diskutiertes Sicherheitskonzept für den Kiez verabschiedet worden, sogenannte Nachtbürgermeister sollten für Ordnung sorgen. Doch jetzt sind die Straßen nachts eh leergefegt, die Sexshops und Bars geschlossen.

Angestellte auf Kurzarbeit

Jaskulkes finanzielle Lage bleibt schwierig. Gerade erst hatte er seinen Cruisingkeller für 80.000 Euro umbauen lassen, der vor zwei Jahren wegen baulicher Auflagen geschlossen worden war. Nun gab es eine Finanzspritze von 14.000 Euro, alle Zahlungen bis auf Miete und Strom hat er gestoppt. Mit den zinslosen Krediten müsste er ein paar Monate über die Runden kommen. Die Angestellten sind auf Kurzarbeit.

Die Lage der Scheune ist typisch für die alteingesessenen Kiezkneipen, die durch Vereine wie den Regenbogenfonds gut miteinander vernetzt sind. „Schöneberg hält durch!“ lautet deshalb Sylvio Jaskulkes Botschaft an die queere Community. Auch wenn das beliebte lesbisch-schwule Stadtfest im Nollendorfkiez – es sollte Ende Juli zum 28. Mal stattfinden – ersatzlos gestrichen werden musste.

Ob unsere Clubs, unsere Bars, unsere Medien durchhalten?

Gloria Viagra, Dragqueen

Ähnlich wie Jaskulke geht es auch seinem Kollegen Reinhard Wöbke, dem Besitzer des Blond, zwei Ecken weiter. Wöbke ärgert sich aber darüber, dass es überhaupt so weit kommen musste: „Wenn die Politik sofort reagiert hätte und die Gesundheitsämter schneller gewesen wären, dann könnten wir diesen Sommer unter bestimmten Bedingungen aufmachen, das ist nun mal unsere Hauptsaison“, sagt Wöbke. „Da muss das Ordnungsamt bei den Tischen draußen mal ein Auge zudrücken, damit wir den Abstand einhalten können, und den Cocktail trinken wir mit Strohhalm, das finde ich nicht so problematisch.“

Der Südblock am Kottbusser Tor ist zu anderen Zeiten so etwas wie Kreuzbergs Queer Central. Jetzt treffen sich regelmäßig Stammgäste aus der Nachbarschaft, mit Mundschutz und Mindestabstand, vor der geschlossenen Institution und reden miteinander. Ein Bild, das Richard Stein, einen der Geschäftsführer, fröhlich und traurig zugleich macht.

Alles abgesagt: das legendäre SO36 ruft zu Unterstützung auf Foto: Anja Weber

Der eigentliche Verlust

„Ich stamme aus einer Generation, der es immer wichtig war, queere Orte zu schaffen und Begegnungen möglich zu machen“, sagt Stein. „Gastronomie war für uns ja eher ein unternehmerisches Vehikel, um solche Orte möglich zu machen – und das ist in dieser Krise der eigentliche Verlust. Und nichts deutet derzeit darauf hin, dass wir in den nächsten Monaten dahin zurückkehren werden.“

„Was für Auswirkungen das in der queeren Welt haben wird – da fehlt uns allen momentan noch die Vorstellungskraft.“ Richard Stein fehlt vor allem eine langfristige Perspektive: „Wir gehen davon aus, dass die Umsätze um mehr als die Hälfte zurückgehen werden, auch wenn wir wieder aufmachen dürfen.“

Ihn ärgert, dass für einen Betrieb dieser Größe kein Instrument der Soforthilfe gegriffen hat. Außerdem ist weder bei den Angestellten des Südblocks noch irgendwo sonst bis heute das versprochene Kurzarbeitergeld eingetroffen. Die meisten Unternehmen haben es vorfinanziert, auch der Südblock, „was uns nervös macht“, sagt Stein. Dramatisch ist die Situation der Minijobber, für die nur der Weg ins ALG2 bleibt.

Spendenaktion für Minijobber

Um genau jenen zu helfen, haben auch Paul Gräbner und Sabine Holzman vom Neuköllner Silver Future eine Spendenaktion ins Leben gerufen. Mit dem Geld konnten sie ihren Minijobbern wenigstens die zweite Märzhälfte komplett bezahlen, für den April „haben die Kolleg*innen das Geld dann selbst unter sich nach Bedürftigkeit verteilt“.

Für die Zukunft ist Gräbner skeptisch. „Eine Bar lebt vom Gedränge am Wochenende, eine Öffnung unter den Bedingungen von Corona lohnt sich in keiner Weise.“ Zu den Gästen des Silver Future gehören vor allem jüngere, linke Queers. „Natürlich ist eine offene Bar kein Safe Space“, sagt Paul Gräbner, „aber ich weiß, dass unsere Gäste diesen sichereren Ort vermissen, wo man mal so sein kann, wie man ist.“

Ums Überleben kämpft auch eine der wichtigsten Institutionen des queeren Berlins, das SchwuZ. Entstanden aus der schwulen Emanzipationsbewegung der späten Siebziger, war es bis zum Ausbruch der Krise der größte queere Club der Stadt und für viele queere Menschen eine Art Heimat.

„Jetzt ist klar“, sagt Geschäftsführer Marcel Weber, „dass wir nicht nur die Ersten waren, die zugemacht wurden, sondern auch die Letzten sein werden, die wieder aufmachen. Wir kämpfen weiter, denn das können wir, aber es ist natürlich furchtbar belastend.“

„Spendenbereitschaft lässt nach“

Das SchwuZ hat 103 Beschäftigte, davon sind 63 Minijobber, 40 arbeiten Voll- oder Teilzeit. Alle sind auf 100 Prozent Kurzarbeit. Eine Spendenaktion hat bis letzten Mittwoch um die 60.000 Euro eingebracht, das deckt gerade mal die Ausgaben für die Minijobber bis Ende Mai. Zehn Prozent gehen in einen Fonds, mit dem das SchwuZ Künstlerinnen unterstützt, denen der Club verbunden ist, und fünf Prozent gehen an eine Organisation, die sich um queere Geflüchtete an der EU-Außengrenze kümmert, „weil wir die auch nicht zurücklassen wollen“, sagt Weber.

„Die Spendenbereitschaft lässt aber nach, wir sind eben nicht die Einzigen“, sagt Weber, „und man merkt, dass auch im queeren Bereich viele vorher schon in prekärer Beschäftigung waren oder jetzt auf Kurzarbeit sind.“

Das SchwuZ war bis zum Aus­bruch der Krise für viele queere Menschen eine Art Heimat

Auch aus seiner Emanzipationsgeschichte heraus liegt dem SchwuZ die Situation der gesamten queeren Community am Herzen: „Was gerade fehlt, ist der Austausch untereinander. Es wäre wichtig, jetzt gemeinsame Aktionen zu machen!“

Das SchwuZ plant, eine dauerhafte Livestream-Situation aufzubauen, „wo wir mit Partnern wie der,Siegessäule' oder den Aidshilfen zusammen Angebote entwickeln, die über einen Musikauftritt hinausgehen, um die Ressource SchwuZ mit der Community auch während der Schließzeiten zu nutzen“, sagt Geschäftsführer Weber.

Koordinierter Kampf ums Überleben

„Stay Homo“: ein Grafitti an der Wand der queeren Bar Möbel Olfe in Kreuzberg Foto: Anja Weber

Um den Kampf ums Überleben der queeren Community in den nächsten Wochen koordinierter zu führen, hat sich die Deutsche Aidshilfe etwas einfallen lassen. Ihre Präventionskampagne IWWIT.de – eine Abkür­zung für „Ich Weiß Was Ich Tu“ –, hat die Aktion #wirfürqueer ins Leben gerufen. Unter diesem Hashtag bündelt ­IWWIT.de auf seiner Startseite zusammen mit Medienpartnern wie Siegessäule oder männer.media die vielen Spendenaktionen, die gerade in der queeren Welt laufen, unterstützt und bewirbt sie.

Zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Trans­phobie 2020 am 17. Mai will die Aidshilfe außerdem im Rahmen von #wirfürqueer eine Online-Veranstaltung durchführen, bei der queere Institutionen und Künstler*innen die Möglichkeit haben, sich zu präsentieren.

Die Aidshilfen können solche Unterstützung besser als andere leisten, weil sie durch ihre fast hundertprozentige Staatsfinanzierung vorerst in ihrem Bestand gesichert sind. Wie sich die Krise allerdings mittel- und langfristig auf ihre Situation auswirken wird, wenn die ­öffentlichen Kassen leer sind – da wagt zurzeit niemand eine Prognose. Das gilt im Übrigen für alle staatlich geförderten queeren Institutionen, zum Beispiel auch für das Schwule Museum.

Was die Aidshilfe aber gerade besonders spürt, ist das enorme Informationsbedürfnis queerer Menschen zu HIV und Covid-19. Pressesprecher Holger Wicht kann da einerseits etwas beruhigen: „Zurzeit gibt es keine Hinweise, dass Menschen mit HIV unter Therapie das Coronavirus schlechter wegstecken als andere.“ Allerdings: „Anders aussehen kann das bei Menschen, die durch HIV schon bestimmte andere Vorerkrankungen haben.“

Aber auch allen anderen bietet die Aidshilfe über ihre IWWIT-­Kampagne Online-Beratungsangebote, zum Beispiel im Chat. „Das betrifft nicht nur HIV und Geschlechtskrankheiten, wir sind explizit auch da, wenn Menschen jetzt die Decke auf den Kopf fällt oder sie Depressionen plagen“, sagt IWWIT-Kampagnenleiter Tim Schomann.

Ganz eigene Probleme

Mit ganz eigenen Problemen haben trans* Personen in den Zeiten von Corona zu kämpfen, sagt der Wissenschaftler und trans-Aktivist Max Appenroth. Die ärztliche Versorgung mit Hormonen oder Check-ups sei teilweise erschwert, weil viele Praxen sich derzeit im Ausnahmezustand befinden. Die Sorge vor Versorgungsengpässen mit Hormonpräparaten sei groß, weil bestimmte Stoffe für die Hormonproduktion normalerweise aus China stammen und die Lieferketten nicht mehr funktionieren.

Traumatisch ist die Situation für alle, deren transitionsbedingte Operation wegen Covid-19 abgesagt wurde. Diese Operationen gelten offiziell nicht als lebensnotwendig. Oft haben die Betroffenen aber jahrelang auf den Termin hingearbeitet. Wegen der veralteten und diskriminierenden Gesetzgebung ist der Weg zur Operation in Deutschland sowieso ein jahrelanger Kampf, gespickt mit Ablehnungen und Einsprüchen. „Für jene trans* Personen, die eine solche OP für sich brauchen, ist das mitunter eine überlebensrelevante Entscheidung“, sagt Appenroth.

Zwei Studien sind derzeit in Arbeit, eine, die sich speziell mit der Situation von trans* Personen, und eine weitere, die sich insgesamt mit LSBTI*-Personen in den Zeiten von Covid-19 beschäftigt. „Schon jetzt wird deutlich: Die Zahl derer, die über Gefühle der Einsamkeit berichten, ist bei trans* Personen am höchsten“, sagt Appenroth: „Selbsthilfegruppen und Community-Events sind für viele die einzigen Sozialkontakte und genau das findet auf persönlicher Ebene nicht statt.“

Kundenanfragen gegen null

Mark ist 26 Jahre alt, ist Fotograf und Künstler und lebt hauptsächlich von seinen Einnahmen als Escort. Seit Mitte März hat die Stadt Berlin ihm und allen anderen Prostituierten die Arbeit zu Hause untersagt, eine Woche später kam der Lockdown. Die Anfragen von Kunden gingen rasant gegen null: „Ich hatte noch ein paar, die benutzte Unterwäsche und Socken kaufen wollten, das war’s!“

Für den jungen Mann eine existenzbedrohende Situation, doch es rettete ihn, dass er legal mit Anmeldeschein arbeitet und dadurch als Soloselbstständiger die 5.000-Euro-Soforthilfe des Senats in Anspruch nehmen konnte.

Sorgen macht er sich über eine Entwicklung, die er aus eigener Anschauung erlebt: Während das gewöhnliche Business ruht, haben sich die Nachfragen nach Sex auf Drogen wie Crystal Meth, das in der Szene „Tina“ genannt wird, mehr als verdoppelt. Er selbst lehnt solche Anfragen ab, aber: „Unter Berlins Escorts kursiert der Scherz, es gebe keine Quarantäne, sondern Quarantina!“

Conor Toomey, psychologischer Berater bei der Berliner Schwulenberatung, glaubt, dass einige schwule Substanzgebraucher in den Escortbereich ausweichen, weil insgesamt weniger private Sexpartys in Berlin stattfinden. „Dass das so ist, können wir aufgrund unser Beratungsarbeit gut feststellen.“

Angespannte seelische Situation

„Für viele, die Chemsex betreiben, also Sex in der Regel mit mehreren und unter dem Einfluss von Substanzen, ist das ein großer Bestandteil ihres Lebens. Mehr und mehr von ihnen geraten dadurch jetzt in die Isolation und seelische Not“, sagt Toomey. Zurzeit sei die Versorgung mit den Substanzen selbst noch kein Problem, doch je nachdem könnte auch das für die Klientel zunehmend zum Problem werden. Zwar sind die Beratungsstellen, wie auch die Entzugsmöglichkeiten in Berlin weiterhin offen. Tatsache sei aber auch, sagt Toomey, dass sich die Zahl der Rückfälle durch die angespannte seelische Situation stark erhöht: „Da geht vielen langsam die Puste aus.“

Das geht auch den Menschen unter den Sexarbeiter*innen so, die ohne Krankenversicherung oder legalen Aufenthaltstitel in Berlin ausharren. Ralf Rötten vom Verein „Hilfe für Jungs“ berichtet, dass zwar die übergroße Zahl der Jungen aus der Straßenprostitution in ihre Heimatländer zurückgekehrt sei, für den Rest aber sei die Situation noch prekärer geworden.

Deshalb hat der Verein die Öffnungszeiten seiner Anlaufstelle um mehr als das Doppelte verlängert. Dort können die jungen Männer duschen, essen und ihre Wäsche waschen, ärztliche Versorgung und soziale Beratung finden statt. Streetworker des Vereins verteilen zudem täglich Lunchpakete an die Jungen, die es nicht zur Anlaufstelle schaffen. Vielen bleibt wirtschaftlich gar keine Wahl, als sich auch in Coronazeiten um Kundschaft zu bemühen. „Ob die Bemühungen allerdings von Erfolg gekrönt sind, das ist wohl relativ selten“, sagt Rötten, aber: „Die Not steigt!“

Immer wieder Verdachtsfälle

Die Berliner Schwulenberatung musste seit dem Beginn ihrer Maßnahmen ihre Face-to-Face-Angebote dramatisch zurückfahren, sowohl an ihrem Hauptstandort in Charlottenburg als auch in der Gesundheitsstation Checkpoint Berlin am Hermannplatz, wo schwule und bisexuelle Männer sowie trans* und inter* Personen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung beraten werden. Dort wird das Personal täglich auf Sars-CoV-2 getestet, die Besuchszahlen sind zurzeit stark rückläufig.

Die größten Sorgen bereitet Geschäftsführer Marcel de Groot die von der Schwulenberatung betriebene Unterkunft für geflüchtete LGBT*-Personen. Dort leben zwischen 80 und 90 Menschen jeweils zu mehreren auf einem Zimmer. Immer wieder gab es dort in den vergangenen Wochen Verdachtsfälle auf Covid-19. Zwar hat sich bisher kein Verdachtsfall bestätigt, aber natürlich entstehen dadurch für die Bewohner*innen wie für die Betreuer*innen dauerhaft extreme Stresssituationen in einem sowieso schon schwierigen Umfeld.

Aus den telefonischen Beratungen schließt die Schwulenberatung, dass viele Männer gesundheitliche Probleme wie Geschlechtskrankheiten auf die lange Bank schieben, weil sie sich vor einem Arztbesuch fürchten. Die Angst vor Corona führt auch zu vermehrter Einsamkeit und Depressionen. Menschen, die durch die Aidskrise gegangen sind, fühlen sich oft schmerzhaft an diese traumatische Zeit erinnert.

Die größten Sorgen bereitet Geschäftsführer Marcel de Groot die von der Schwulenberatung betriebene Unterkunft für geflüchtete LGBT*-Personen

Es wäre „eine Katastrophe“

Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe und seit vielen Jahren Teil der Berliner Queer-Community sagt: „Wir laufen jetzt Gefahr, dass große Teile der queeren Kultur ausgelöscht werden. Diese Community ist über Jahrzehnte aufgebaut worden und sichert uns das Leben, das wir führen wollen. Es wäre eine Katastrophe, wenn sie verschwände. Zugleich sehen wir gerade überdeutlich, wie wichtig das alles ist. Vielleicht können wir so ein paar unnötige Streitereien beiseitelegen und an einem Strang ziehen.“

Birgit Bosold vom Schwulen Museum sieht langfristige Folgen auch auf den institutionell geförderten Teil der Berliner Queer-Szene zukommen: „Die Zuwächse, die es in den letzten Jahren gegeben hat, damit wird erst mal Schluss sein. Und langfristig wird die Frage auftauchen, wer diese ganze Krise bezahlen wird und ob es zulasten der Schwächeren, der sozialen und kulturellen Einrichtungen und damit auch der queeren Community gehen wird.“

Für den Linken-Politiker und Aktivisten Bodo Niendel hat die Krise in Berlins Queer-Community tiefere Ursachen als nur Covid-19: „Queere Menschenrechtspolitik hat sich seit den 1990ern auf rechtspolitische Gleichheit und Antidiskriminierungsarbeit fokussiert. Aber das Soziale wurde ausgeklammert. Nebenbei wurden Arme ärmer und Reiche reicher. Wir sollten jetzt und nach der Krise Solidarität eben auf das Soziale ausweiten. Antidiskriminierungspolitik kann nur erfolgreich sein, wenn die sozialen Verwerfungen abgebaut, statt vertieft werden. Queer und sozial gehört zusammen. Andernfalls fürchte ich einen massiven Aufwuchs der neuen Nazis.“

Wicht wiederum betont, dass queere Menschen in der jetzigen Krise auch etwas anzubieten haben: ihre Erfahrungen aus der Aidskrise nämlich, die gerade in Deutschland alles in allem gut bewältigt wurde. „Die größte Lehre aus dieser Zeit ist, dass wir eine Epidemie nicht in den Griff bekommen, indem wir jemanden zum Problem erklären, sondern nur gemeinsam. Die Politik muss die Menschen zu Partnern machen und sie dazu befähigen, Verantwortung zu übernehmen. Das ist nicht nur der vielversprechendere Ansatz, sondern es fühlt sich auch für alle besser an. Wir müssen Menschen ermöglichen, Teil der Lösung zu sein, dabei empathisch und solidarisch handeln. Das haben wir in der Aidskrise gelernt.“

Und SchwuZ-Geschäftsführer Marcel Weber spricht vielen aus der Seele, wenn er feststellt: „Wir geben nicht auf, wir sind kämpfen gewohnt, wir haben schon viele Kämpfe gewonnen und darum werden wir diesen auch gewinnen!“ Dirk Ludigs

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1 Kommentar

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  • In dem Artikel über die queere Szene kommen gar keine Lesben vor.



    Praktisch, daß sie keine Läden mehr haben. Da kann nichts pleite gehen.