: Container „mit Meerblick“
Kaurismäki will man mögen. Und wird in „Der Mann ohne Vergangenheit“ für diese Treue belohnt. Keiner sonst erzählt die alten Geschichten so neu und besetzt die Düsternis mit Versprechen von Glück
von BARBARA SCHWEIZERHOF
So unterschiedlich die Filme von Aki Kaurismäki und Pedro Almodóvar auch immer sind, haben sie doch eines gemeinsam: Keiner, der cineastisch etwas auf sich hält, würde zugeben, sie nicht zu mögen. Versuche, sich durch eine abweichende Meinung diesbezüglich interessant zu machen, sind zum Scheitern verurteilt – man würde einfach als unwissend betrachtet und ausgeschlossen. Die jeweils neuen Filme werden von einer eingeschworenen Gemeinde mit durchaus zwiespältigen Gefühlen erwartet. Auf der einen Seite ist da die Furcht, diesmal enttäuscht zu werden, entweder weil dem verehrten Autor über das Erwartete hinaus nichts Neues eingefallen ist oder weil er sich vom Erwarteten zu weit weg bewegt hat. Und auf der anderen Seite ist da die Hoffnung: zum einen auf die Wiederholung des Vertrauten , zum anderen auf dessen Überwindung.
Als Umgang mit diesen Erwartungen scheint Aki Kaurismäki eine Art behutsamen Slalom gewählt zu haben von radikal-düster („Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“) zu melancholisch-düster („I hired a contract killer“), vom finster-optimistischen Sozialdrama („Wolken ziehen vorüber“) wieder zurück zur stummen, radikalen Düsternis („Juha“). Für diese diskret gehaltenen Genre-Wechsel wählt Kaurismäki gerne eine Art Verkleidung, die er sich aus der Film- und Motivgeschichte leiht und die seinen eigentlich so traurigen Filmen die doppelbödige Leichtigkeit verleiht. Beim „Mann ohne Vergangenheit“ ist das der Film Noir, der schon im hastigen Pinselschriftzug des Titels in Erinnerung gebracht wird. Ein Mann allein, eben ohne begleitende Vergangenheit, in unbekannter Umgebung ist eine typische Konstellation aus den tiefpessimistischen amerikanischen Nachkriegsfilmen, genauso wie die Verbrechensgeschichte im Hintergrund und die markanten Ein-Satz-hin-ein-Satz-zurück-Dialoge.
M, wie die von Markku Peltola verkörperte Figur anspielungsreich genannt wird, ist nach Jim Carrey in „The Majestic“ und Matt Damon in „The Bourne Identity“ bereits der dritte Mann ohne Gedächtnis in diesem Kinojahr. Grob zusammengefasst, spielt sich in allen drei Filmen das Gleiche ab: Der Verlust der Vergangenheit beginnt als Trauma und endet als Traumerfüllung. Die alte, vermeintlich wahre Identität wird durch ein neues Leben und eine neue Liebe widerlegt. Nirgendwo erscheint diese alte Geschichte jedoch so neu wie bei Kaurismäki.
Das hat zu tun mit seiner besonderen Mischung aus großen Kinomythen und Realität „ganz unten“. Zusammengeschlagen, im Krankenhaus bereits für tot erklärt, erhebt sich der gedächtnislose M noch in Bandagen von der Bahre und macht sich auf an die Peripherie von Stadt und Gesellschaft. In der Nachbarschaft der Leute, die ihn gesund pflegten, mietet er sich einen Container „mit Meerblick“, richtet sich bescheiden ein, versucht einen Job zu finden und verliebt sich in eine Soldatin der Heilsarmee. Stoisch, wie man es von Kaurismäki-Figuren gewöhnt ist, steht er immer wieder die Befragungen zu seiner Identität durch und lebt gleichsam nur noch im Moment und aus dem Moment heraus. Wie sich allmählich wieder ein ganzes, selbst bestimmtes Leben aus diesem einem Moment ergibt – M beginnt, Kartoffeln zu ziehen und die Heilsarmee-Musiker in eine passable Rockcombo zu verwandeln –, ist schön, verblüffend und anrührend zugleich.
Sein nicht mehr ganz junges, gleich bleibend ausdrucksloses Gesicht verleiht M etwas von der Coolness alter Filmhelden; in seinen konkreten Handlungen jedoch ist er ganz Lumpenproletariat: wie er seinen Container spärlich, aber mit Sorgfalt möbliert; die Angebetete mit einem nur teilweise gelungenen, dafür selbst gekochten Mahl beglückt. Kaum ein Lächeln sieht man je auf dem Gesicht von Kati Outinen, die die Heilsarmee-Frau spielt, und doch verleiht gerade dieser Widerstand, das eigene Antlitz als Spiegel der Gefühle zu benützen, ihr eine besondere Würde und Glaubhaftigkeit. Irgendwo in dieser Fallhöhe von alltäglichen Gesten, äußerlicher Regungslosigkeit und knappen pointierten Kinodialogen entsteht jener Humor, der noch jedes Leid in Kaurismäkis Filmen versüßt hat.
Nicht ohne Koketterie stellt Kaurismäki den „Mann ohne Gedächtnis“ als Film über Obdachlosigkeit vor – im Anschluss an seinen „Arbeitslosen“-Film „Wolken ziehen vorüber“. Beides jedoch sind genauer besehen vor allem Filme über Wandlungen, die aus der Mittellosigkeit heraus geschehen. Wenn die Realität eines Gedächtnisverlusts nicht so ganz anders wäre, müsste man diese filmische Version davon als soziale Entwicklungstherapie patentieren lassen.
„Der Mann ohne Vergangenheit“. Regie: Aki Kaurismäki. Mit Markku Peltola, Kati Outinen u. a. Finnland 2002, 97 Min.
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