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Container Deutschland

Die TV-Show „Big Brother“ lohnt den genauen Blick: Weil die AkteurInnen uns Tag für Tag vor Augen führen, wie eine „Leitkultur“ ermittelt wird

von ARNO FRANK

Vielleicht liegt es am Calvinismus, vielleicht an einer Steuer auf Gardinen, jedenfalls lassen sich die Menschen in den Niederlanden freimütig vom Frühstück bis zum Abendessen auf die Teller gucken. Den fremden Blick von außen in die eigene Wohnung ertragen sie gerne, weshalb unsere Nachbarn zu einem TV-Format wie „Big Brother“ ein gewiss unverspannteres Verhältnis haben.

Holland also trifft keine Schuld, wenn hierzulande der „marokkanische Stier“ Karim die „Frankenbarbie“ Daniela bezirzt, Daniela darauf ihren Freund Mike bescheißt, Mike zur Primetime auf RTL dann „ganz stark“ sein muss und ganz professionell auf seine Homepage www.frankenbarbie.com verweist.

Drinnen im Container kreisen derweil die Kandidaten fortwährend um sich selbst, schmieden Intrigen und Allianzen, während sie sich im Spiegel betrachten, wie sie durch den Spiegel betrachtet werden als Spiegel einer spaßigen Gesellschaft. Das ist anstrengend. Womöglich träumen sie nachts von der Tinte unter Plattenverträgen, tagsüber aber reden, plappern und gackern sie sich ins Herz einer kleinen Gemeinschaft, die sie durch gemeinsames Plappern und Gackern erst hergestellt haben – mit Dialogen, die an Seifenopern geschult und kaum von „Verbotene Liebe“ oder „GZSZ“ zu unterschieden sind.

Im Internet oder bei Single-TV auf Premiere World lässt sich das Gequatsche sogar pausenlos verfolgen, und rasch gerinnt es zu einer Art konstruktivem Summen, dem allwöchentlich wieder eine Stimme verloren geht. Wird nämlich ein Gegenspieler per Nominierung zur Disposition gestellt, dann „hat er irgendwo sein eigenes Ding gefahren“, „sich nicht so an der Gruppe beteiligt“ oder „fühlt sich, glaub ich, draußen echt viel wohler“.

Ein dissonanter Tenor wie der „Nominator“ Christian wird höflich aus dem Chor komplimentiert, soziale Hygiene auf ihre Substanz reduziert: Wer darf rein? Wer darf raus? Und wer darf das bestimmen? Das sind die Fragen, die im Fernsehen, immerhin das deutsche Leitmedium, verhandelt werden.

Womit wir bei der deutschen Leitkultur wären, die sich im Wesentlichen um exakt dieselben Fragen dreht: Wer darf rein? Wer muss draußen bleiben? Wer darf das bestimmen? Und was ist überhaupt die „deutsche Leitkultur“, wenn nicht ein verlässliches Grundbrummen zufriedener Gemüter?

Gemüter jedenfalls, auf die ein Unionsmann wie Friedrich Merz spekulieren muss: Höchstens zweihunderttausend Neuzugänge sollte es im Jahr geben, und die hätten sich, bitte schön, an die „deutsche Leitkultur“ zu halten. CDU-Neugeneral Laurenz Meyer, seinem Merz beispringend, verweist vergleichend auf die „französischen, britischen oder italienischen“ Kulturen, über die sich ja auch keiner beschwere.

Wo er Recht hat, hat er Recht. Renault, Rolls Royce, Ferrari? Voltaire, Shakespeare, Dante? Da juckt es doch in den Fingern, diese stolzen Reihungen um Volkswagen und Goethe zu ergänzen. Was „Leitkultur“ ist, wäre damit aber noch immer nicht geklärt. Meyer weiß es auch nicht, will aber verhindern, dass in Deutschland „tausende türkische“ Frauen „in die Heirat hineingezwungen werden“.

Ist’s also die christlich-abendländische Leitkultur? Oder, trotz feuilletonistischer Bemühungen, einfach nur eine willkommene Leerstelle? Oder ein Grundbrummen, vergleichbar dem elektrischen Widerstand bei ausgeschaltetem Gerät? Ist es das?

Der „Republikaner“ Rolf Schlierer stimmt tapfer mit ein: „Deutsche Leitkultur“ müsse der „kleinste gemeinsame Nenner in der gegenwärtigen Zuwanderungsdebatte sein“. Wess Brot ich ess, dess Lied ich sing? Aber wie geht die Melodie? Das weiß auch CSU-Generalsekretär Thomas Goppel nicht, spricht aber spekulativ vom Grundgesetz als bindende „Hausordnung“ für Zuwanderer.

Jetzt meldet sich Grünenfraktionschef Rezzo Schlauch und behauptet das Gegenteil: Eine deutsche Leitkultur widerspreche dem Grundgesetz, weil es von der Pluralität der Kulturen ausgehe. Roland Koch kontert in der Bild-Zeitung, Integration könne es eben nicht „auf Basis einer gleichmäßigen Verteilung von Traditionen geben“. Zuwanderung dürfe nicht „aus dem Interesse derjenigen definiert werden, die zu uns ‚wandern‘ “. Klartext Koch: „Ausländer, die in unserem Land leben wollen, haben unsere Gepflogenheiten zu respektieren, müssen sich in unsere Gesellschaft eingliedern.“ Und Angela Merkel bezweifelt gar, dass das Konzept einer „multikulturellen Gesellschaft überhaupt funktioniert“. Nebenbei bemerkt funktionierte in den relativ multikulturellen USA das Konzept „Big Brother“ nicht – die Sendung floppte.

Es trieft vor Hilflosigkeit, wo zwei schwammige Begriffe wie „multikulturell“ und „Leitkultur“ gegeneinander ausgespielt werden. Zwar ist man sich durch alle Parteien einig, dass ein „gemeinsamer Wertekanon“ schon schön wäre. Welche Werte das sein sollen, darauf kann man sich freilich nicht einigen. Die Rede darüber aber erzeugt eben jenes zufriedene Brummen, das in jedem Container zu hören ist.

Wahrscheinlich ist es auch in jenem Zugabteil zu hören, das Hans Magnus Enzensberger in seiner Parabel „Die große Wanderung“ beschreibt: „Zwei Passagiere in einem Eisenbahnabteil. Wir wissen nichts über ihre Vorgeschichte, ihre Herkunft oder ihr Ziel. Sie haben sich häuslich eingerichtet, Tischchen, Kleiderhaken, Gepäckablagen in Beschlag genommen. Auf den freien Sitzen liegen Zeitungen, Mäntel, Handtaschen herum. Die Tür öffnet sich, und zwei neue Reisende treten ein. Ihre Ankunft wird nicht begrüßt. Ein deutlicher Widerwille macht sich bemerkbar, zusammenzurücken, die freien Plätze zu räumen, den Stauraum über den Sitzen zu teilen. Dabei verhalten sich die ursprünglichen Fahrgäste, auch wenn sie einander gar nicht kennen, eigentümlich solidarisch. Sie treten, den neu Hinzukommenden gegenüber, als Gruppe auf. Es ist ihr Territorium, das zur Disposition steht. Jeden, der neu zusteigt, betrachten sie als Eindringling. Ihr Selbstverständnis ist das von Eingeborenen, die den ganzen Raum für sich in Anspruch nehmen. Die Auffassung lässt sich rational nicht begründen. Umso tiefer scheint sie verwurzelt zu sein.“ Wer solchen Auffassungen anhängt, „hat ein reales Territorium gegen ein virtuelles eingetauscht. Trotzdem verteidigt er seine flüchtige Bleibe nicht ohne stille Erbitterung.“

Er reagiert nur deshalb allergisch auf den neuen Reisenden, weil er ein neuer Reisender ist. Hat der aber erst einmal Platz genommen, sein Gepäck verstaut und sich mit beiläufigen gebrummten Bemerkung ein- und untergebracht, so gehört der Fremde bald zu eben dieser kleinen Gemeinde, die sich zufällig und kurzfristig in einem Container versammelt hat.

Fürderhin gehört die Verteidigung des „transitorischen Aufenthalts“ gegen die unbehagliche Fluktuation zu den ersten Pflichten im bergenden Container – die typische „Big Brother“-Situation, die sich mühelos auf den Staat oder Systeme schlechthin extrapolieren lässt: Wer darf rein? Wer muss draußen bleiben? „Der Gast ist heilig“, schreibt Enzensberger, „aber er darf nicht bleiben.“

Wo der „deutliche Widerwille“ der Bürger schwelt und geschürt wird, erkennt der CDU-Mann Peter Müller ein brummfähiges Wahlkampfthema: „Auch der Asylbewerber sollte zügig wissen, ob er ein Bleiberecht hat oder nicht.“ Und einer seiner Parteifreunde fordert, den Aufenthalt von Asylbewerbern „im Transitbereich der Flughäfen zu beschleunigen“. Wir verteidigen unseren Container brummend. Selbst die Kirche hat nichts anderes im Sinn, wenn sie mit Bischöfin Maria Jepsen den Begriff der „deutschen Leitkultur“ vorsichtig für die „nationalistischen Töne“ tadelt, die sie „dahinter“ vermutet: Hinter was? Hilflos muss die Kirche – immerhin ein Entwicklungsbüro für Container von metaphysischen Ausmaßen – mit ansehen, wie ihre innersten Mechanismen zur TV-Unterhaltung taugen: Sein und Nichtsein, Drohung und Beichte, Sinnstiftung und Exkommunizierung – alles drin im Köln-Hürther Container. Aber selbst hier findet sich das flexible Medium seine eigenen Regeln: Marion, von ihren Mitbewohnern aus dem Haus gemobbt, wird von den Zuschauern nach einer Woche wieder hineingewählt und in den sozialen Untod geschickt. Vermummt mit Sonnenbrille und Wollmütze schleicht sie sich durch die geschenkte Zeit, geht mit News aus der Außenwelt hausieren und geriert sich, als habe sie ins Jenseits geschaut: „Nach dem, was ich jetzt weiß“, sagt sie im Badezimmer zum guten Harry, „kann mir hier drin niemand mehr.“ Konkurrentin Hanka bricht beim Anblick der Wiedergängerin entsetzt in Tränen aus, und noch im „Big Brother“-Chat findet der fundamentale Regelbruch ein verstimmtes Echo: „Wo kommen wir denn da hin, wenn jeder, der draußen war, wieder rein darf?“

Ja, wo kämen wir denn da hin?

Guido Westerwelle jedenfalls bewies Gespür für die Verschränkung von Leitmedium und Leitkultur, als er als Deus ex Machina in den Container stieg, um einem aufmerksamen Ausländer Wesen und Prinzip seiner Partei zu erklären. Einem Österreicher obendrein. Aber die können diesmal auch nichts dafür. Das ist allein unser Brummen.

ARNO FRANK, 29, lebt im taz-Mediencontainer

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