piwik no script img

Coming Out 2008Moll muss nicht

Ein Coming-out muss keine Tragödie mehr sein. Aber wenn es sich um das eigene Kind handelt? Die größten Probleme sind oft in der Familie geborgen.

Wenn das Reihenhaus zur Psycho-Falle wird: Schwule und Lesben haben es in ihren Familien oft schwer Bild: ap

Es gibt ihn nicht mehr, den immer gleichen Moll-Grundton, der die Mehrheit der Coming-out-Geschichten durchzieht: "Ich bin schwul." Türen knallen, Vater flucht, Mutter weint, und dann Funkstille zwischen Eltern und Kindern. Die Zeiten haben sich, wenn auch nicht komplett, geändert.

Zum Beispiel im Fall von Henning aus Berlin, der sich erst mit über dreißig geoutet hat. Doch zu dieser Zeit beschäftigte ihn weniger, wie die Eltern reagieren könnten, als vielmehr, was die eigene Tochter sagt - und ihre Mutter. Seine Frau, mit der er bis zu seinem einunddreißigsten Lebensjahr verheiratet war. Er befürchtete damals, sein ganzes Leben könne zusammenbrechen, wenn er die bisherige heterosexuelle Familienwelt verließe. Sein Frau hatte ihm nach seiner Offenbarung auch durchaus eine Weile Vorwürfe gemacht, doch mittlerweile haben sie ein ausgezeichnetes Verhältnis, auch wegen der Tochter. "Ich hab gedacht, das überfordert sie, aber als ich das erste Mal einen festen Freund hatte, war für sie klar: Papa liebt halt einen Mann. Kleine Kinder sind da sehr unbefangen." Zusammen mit dem neuen Mann der Mutter hat sie jetzt sozusagen drei Väter. Und findet es wunderbar.

Heute ist sie dreizehn Jahre alt, das damals vereinbarte gemeinsame Sorgerecht gilt noch immer. Sie erzählt sogar ihrer Klasse von ihrem schwulen Vater, der wiederum auch aus seinem damaligen Freundeskreis keinerlei Ablehnung erfahren hat. Nur bei seinen Eltern dauerte es eine Weile. Die Mutter redete anfangs noch von einer "Phase", aber ein Kontaktabbruch stand nie zur Debatte. Inzwischen ist es normal für sie geworden, dass ihr Sohn schwul ist. Eine durch und durch gelungene Coming-out-Geschichte.

Dianas Eltern hingegen sind von einer solchen Normalität weit entfernt. Mit achtzehn hatte sich die Berlinerin Diana bei ihrer Mutter geoutet, nachdem sie ihr vorher eine heterosexuelle Identität vorgespielt und Ausreden erfunden hatte, wenn sie bei ihrer Freundin war. Monatelang hat sie sich den Kopf darüber zerbrochen, ob sie "es" ihr erzählen will. Aber irgendwann war der Druck zu groß. Prompt gab es auf beiden Seiten Tränen: "Für sie war es ein großer Schock, meine Mutter hat nächtelang geheult." Diana musste ihr immer und immer wieder das eigentlich Selbstverständliche erklären. Nein, es ist keine Krankheit. Und ja, Gefühle sind nun einmal Gefühle - auch wenn man sie für jemanden empfindet, der das gleiche Geschlecht hat.

Als sie zwei Jahre alt war, zog ihre Familie nach Berlin. Weg aus einem einem kleinen, katholisch geprägten polnischen Dorf. Die Tatsache, das sie nun in einer Stadt mit schwulem Bürgermeister leben, hat auf die Meinung der Eltern wenig Einfluss: "Die trennen das. Schwuler Bürgermeister ist okay, das ist halt ein schriller Vogel, aber ansonsten sind Homosexuelle einfach nur Leute, die einen Knall haben." Ihre Freundin kann sie zwar mittlerweile mit nach Hause bringen, aber die Mutter wird wohl ihr Leben lang hoffen, dass Diana eines Tages doch noch mit einem Mann zusammenkommt. Inzwischen arbeitet ihre Tochter als ehrenamtliche Beraterin bei In&Out, dem bundesweiten Beratungsprojekt des schwul-lesbischen Jugendnetzwerks Lambda. Dort berät Diana unter anderem Jugendliche, die das Coming-out noch vor sich haben.

Ihre Erfahrungen sind vielschichtig: "Bei einigen Eltern findet man die ganz alten Vorurteile immer noch. Die Kinder knabbern da noch Monate und Jahre dran. Aber es gibt auch viele Jugendliche, die im Nachhinein sagen, dass ihr Coming-out total unspektakulär und problemlos abgelaufen ist." Dianas eigene Mutter jedenfalls will von all diesen Details - positiven oder negativen - lieber gar nichts wissen.

Doch auch für Interessierte ist es schwierig, sich zu informieren. Es gibt erschreckend wenige Studien über schwul-lesbische Jugendliche. Eine der wenigen, "Sie liebt sie. Er liebt ihn", für die von der Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport im Jahr 1999 zweihundert Jugendliche befragt wurden, ergab, dass die Betroffenen sich im Schnitt mit zirka sechzehn Jahren selbst sicher waren, homo- oder bisexuell zu sein. Ein Outing gegenüber den Eltern erfolgte in der Regel erst zwei Jahre später. Deren Reaktionen waren laut Studie zwar nicht einheitlich positiv, aber auch nicht mehr überwiegend negativ. Knapp die Hälfte der Betroffenen erlebte ausschließlich positive Reaktionen, etwa ein Viertel ausschließlich negative Reaktionen. In den übrigen Fällen reagierten Eltern unterschiedlich oder änderten ihre Meinung, nachdem sie zuerst negativ reagiert hatten. Als häufigste Reaktionen wurden genannt: "verständnisvoll" und "akzeptierend", "ablehnend" fiel dahinter leicht zurück. Doch immerhin drei Prozent wurden von ihren Eltern der Wohnung verwiesen. Rausgeworfen.

Gefragt wurde auch, ob die Jugendlichen bereits einen Selbstmordversuch hinter sich hatten. Sechzig Prozent berichten von Selbstmordgedanken, achtzehn Prozent von einem Selbstmordversuch. Der Leipziger Pädagogikprofessor Thomas Hofsäss schätzte auf Grundlage der Studie, dass das Suizidrisiko mindestens viermal so hoch wie bei gleichaltrigen Heteros ist.

Bei dem siebzehnjährigen Michael Schmidpeter aus der kleinen bayerischen Stadt Pöcking war es zum Beispiel nicht bei einem erfolglosen Selbstmordversuch geblieben. Am zweiten Juni 2006 warf er sich vor die S-Bahn. Er hatte sich in einen Schulkameraden verliebt und kam mit seinem Schwulsein nicht zurecht. Auch heute kann die Erkenntnis, schwul zu sein, also noch das schlimmste denkbare Ende nehmen. Und häufig wissen weder Freunde noch Familie eine Antwort auf die hilflose Frage "Warum?" in den Todesanzeigen junger Menschen, die sich das Leben genommen haben. Sie haben die Antwort mit in ihr Grab genommen.

Laut Alain May, der das Projekt In&Out als Diplompsychologe leitet, ist die Situation aber im Allgemeinen deutlich besser geworden. Doch während es in deutschen Familien eindeutig leichter geworden ist, berät In&Out immer mehr Jugendliche aus Familien mit Migrationshintergrund. "Da wird gesagt, du gehörst nicht mehr zu uns, du fliegst von zu Hause raus, wenn du es ernst meinst." Mit zehn, zwanzig Jahren Verspätung kehren durch den Kontakt mit arabisch-, türkisch- oder russischstämmigen Familien alte, längst überwunden geglaubte Themen zurück in die Beratungsstellen.

Das Coming-out ist jedoch schon lange nicht mehr das einzige Problem, das bei Jugendlichen Beratungsbedarf schafft. Viele haben mittlerweile ganz normale Beziehungsprobleme, während das Thema Eltern und Familie vergleichsweise weniger drückend geworden ist: "Was sich verändert hat, ist: Die meisten Eltern, Onkel, Tanten, Großeltern wissen einfach besser über Schwul- und Lesbischsein Bescheid. Es ist durchgesickert, dass man mit einem homosexuellen Kind gut leben kann", sagt May.

Die große leidvolle Erzählung des Coming-out, fast schon ikonografisch dargestellt in zahllosen Büchern und Filmen, gibt es also glücklicherweise nicht mehr. Das Stück namens "Coming-out" ist meist aufwühlend, doch es endet nicht mehr zwangsläufig tragisch: Es kann eine glückliche Patchworkfamilienstory wie bei Henning sein, eine Geschichte von dicken Brettern, die gebohrt werden müssen, wie bei Diana, eine Tragödie wie bei Michaels Selbstmord oder eine der vielen kleinen, individuellen Geschichten, die Alain und seine Kollegen jeden Tag hören. Ein Fortschritt, immerhin. Wenn auch kein Versprechen auf ein Happy End.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

1 Kommentar

 / 
  • C
    Caro

    Hallo zusammen,

     

    anfangs ist das coming out des eigenen Kindes nicht unbedingt einfach. Man muss auch als Eltern erst einen gemeinsamen Nenner suchen bzw. finden u. sich darauf einstellen können. Klischeehafte Vorstellungen wie Hochzeit, Enkelkinder etc. sind dann halt erst einmal gegessen.

     

    Wenn man allerdings lernt, sich darauf einzulassen u. bereit ist, sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, wird man feststellen, dass sich auch hier nichts gravierend ändert - und zwar für Eltern, Verwandte, Freunde etc.

    Die gleichgeschlechtlichen Beziehungen sind m.E. nach *intern* jedoch schon etwas mehr mit Problemen behaftet.

     

    Schwierigkeiten habe ich langsam mit dem Begriff "coming out". Es hört sich so an, als ob man verpflichtet sei, das Innerste nach außen zu stülpen - wer tut das schon bei Heteros? Wer erzählt denn, was bei jedem Einzelnen im Schlafzimmer passiert? Und um etwas Anderes geht es hier doch eigentlich gar nicht. Es ist ja kein Verbrechen, jemanden zu lieben, solange dies im *Rahmen* bleibt. Und eine homosexuelle Beziehung ist im Rahmen. Auch wenn der vlt. ein bisschen anders ist.

     

    Beziehungstechnisch glaube ich, dass da eher das Problem bei homosexuellen Beziehungen liegt. Das finde ich sehr schade. Vlt. ändert es sich jedoch, wenn nach u. nach homosexuelle Menschen nicht mehr als anders betrachtet u. neugierg bestaunt werden.

     

    Das Gleichbehandlungsgesetz wurde ja nicht nur erfunden, um das Gewissen zu beruhigen, sondern um es auch zu leben. Das ist jedoch nicht immer einfach...

     

    LG