Cohn-Bendit über Bürgerproteste: "Emotionale Radikalität ist faszinierend"
Für Daniel Cohn-Bendit kämpfen die Bürger in Stuttgart nicht nur gegen einen Tiefbahnhof. Die Landtagswahl im März könne eine Zäsur der deutschen Nachkriegsgeschichte werden, sagt er.
BERLIN taz | Daniel Cohn-Bendit sieht in den neuen Bürgerbewegungen in Deutschland eine Parallele zur Studentenrevolte von 1968: "Die Bürger haben einen Machtkampf gegen die regierenden Parteien angezettelt", sagte der Fraktionschef der Grünen im EU-Parlament im sonntaz-Interview.
Die Bewegung gegen Stuttgart 21 sei ein Machtkampf gegen die Landesregierung, so wie die Studentenbewegung von 1968 ein Machtkampf gegen die damals regierende Große Koalition gewesen sei. Damals sei der Antrieb Angst vor der Wiederkehr des Faschismus gewesen, heute sei es "Angst vor der Globalisierung und der Modernität". Während die von den Studenten diskutierte Alternative allerdings der Marxismus war, sei sie für die Bürger heute die "ökologische Transformation". Für Cohn-Bendit kämpfen die baden-württembergischen Stuttgart 21-Gegner nicht nur gegen einen Tiefbahnhof: "Diese Menschen haben durch den Entzündungsanlass plötzlich akzeptiert, dass sie sich in eine bestimmte Richtung bewegen wollen - und jetzt machen sie es."
Cohn-Bendit hatte 1968 den Protest in Frankreich angeführt, der zu tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen führte. Auch damals sei erst die Bewegung gekommen und hinterher habe sie sich "dann eine Erklärung gesucht".
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Die Frage sei heute nicht mehr, ob man für oder gegen Kapitalismus und Marktwirtschaft sei, sagt Cohn-Bendit, sondern: "Wie kann und muss man die Marktwirtschaft und den Kapitalismus regulieren - global, europäisch, national, lokal - damit wir dieses System wieder rational in den Griff kriegen? Im Weltmaßstab ist die soziale Frage auch eine ökologische Frage." Weil sie das nicht erkenne, sei "die Linke auf dem Abstellgleis".
Cohn-Bendit sieht generell "zwei Grundrichtungen" der Bürgerbewegung: "Viele Menschen fühlen sich übermäßig angestrengt und tendieren dazu, für die Vereinfachung die Einschränkung ihrer Freiheit zu akzeptieren, wenn sie nicht mehr solchen Anstrengungen ausgesetzt werden." Die "Sarrazin-Bewegung" sei eine "ganz starke reaktionäre Bürgerbewegung, beheimatet in FAZ und Bild-Zeitung, bei der Unterschicht und Oberschicht zusammenfinden." Auf der anderen Seite - etwa in Stuttgart - wolle sich "ein Teil der Bevölkerung dieser Anstrengung stellen", sagt er. "Dies ist zumindest meine optimistische zeitgeschichtliche Interpretation." Die Stuttgarter Bewegung sei "eine Mischung aus konservativ und fortschrittlich." Das Faszinierende an ihr sei "die emotionale Radikalität". Das allerdings könne im Zusammenhang mit Bau oder Nichtbau des Bahnhofs für einen künftigen grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann ein Problem werden: "Genau diese emotionale Radikalität ist auch die Sperre zu einer rationalen Verarbeitung."
Für Cohn-Bendit ist die neue Konkurrenzsituation zwischen Union und Grünen der Ausdruck des veränderten politischen Bewußtseins eines Teils der Gesellschaft. "Es ist klar, dass in Baden-Württemberg sich viele von der CDU vorstellen können zu den Grünen zu gehen, aber sich nie vorstellen könnten, zur SPD zu gehen. So einen Wechsel verhindert immer noch die alte Dichotomie der Politik. Das wollen sie nicht. Sie interpretieren oder projizieren in die Grünen, dass etwas Neues für sie beginnen könnte."
Die Landtagswahl in Baden-Württemberg könne eine entscheidende Zäsur der deutschen Nachkriegsgeschichte bringen: "Wenn die FDP unter 5 Prozent fällt, ist das bürgerliche Lager erdolcht. Grüne bei 30, SPD bei 20, dann wird die Geschichte auf ein neues Blatt geschrieben." Seine Begründung: "Dann hätte die CDU bundesweit keinen Koalitionspartner mehr. Das wäre das Spannendste, was der Bundesrepublik passieren kann. Dann müssen sich alle bewegen."
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