Christa Wolfs Roman "Stadt der Engel": Der blaue Pass der DDR
Ein Ereignis: Christa Wolf stellte ihren neuen Roman "Stadt der Engel" in Berlin vor. Nur einmal leistete sich ihr Kollege Ingo Schulze dabei eine kleine Piksigkeit.
Christa Wolf hat eine leichte kratzige Stimme, deren ruhigem Tonfall man anhört, dass diese Autorin es gewohnt ist, dass man ihr zuhört, wenn sie etwas sagt. Es ist nicht ganz einfach, die öffentliche Wirkung dieser Stimme zu beschreiben. Sie hat inzwischen etwas Großmütterliches angenommen. Dann gibt es aber auch auratische Untertöne. In dieser Stimme ist noch zu spüren, dass AutorInnen nach dem Krieg in Deutschland (Ost wie West) etwas ganz anderes waren, als sie heute sind: nicht einfach nur Stars, sondern Instanzen, auf deren Worte man gehofft, auf deren Sätze man gewartet hat. Offenbar gibt es nach solchen auktorialen Instanzen immer noch ein Bedürfnis.
Am Mittwochabend erklang diese Stimme in der Berliner Akademie der Künste. Christa Wolf stellte ihr neues Buch "Stadt der Engel" erstmals der Öffentlichkeit vor. Lange Schlangen. Journalisten, die sich zu spät angemeldet hatten und nun auf gnädigen Einlass hofften. Es war ein Ereignis.
Das Buch erzählt von den neun Monaten, die Christa Wolf 1992/93 auf Einladung des Getty Centers in Los Angeles verbrachte, um Abstand von den Ereignissen rund um den Mauerfall zu gewinnen. Da sie sich darin auch mit ihrer episodischen Mitarbeit bei der Stasi in den späten Fünfzigerjahren beschäftigt, war der Roman schon vor dem Erscheinen (am 21. Juni, eingehende Besprechung wird folgen) in die Presse gekommen.
Der Atmosphäre am Mittwoch war nun zu entnehmen, dass der Name Christa Wolf für die Hoffnung auf einen differenzierten, alle Umstände berücksichtigenden Umgang mit DDR-Vergangenheiten steht. Dagegen ist ja auch gar nichts zu sagen. Allerdings las die Autorin, aus dem "Gewebe" des Textes "gezupft", einige Passagen, die den Eindruck vermittelten, dass sie sich auch einiger zumindest fragwürdiger Erzählstrategien bedient. In ihnen reserviert die Autorin für ihre Ich-Erzählerin die Rolle der sich unerbittlich selbst Befragenden; zugleich lässt sie aber einige Nebenfiguren auftreten, die sie beflissen entlasten. Eine als leicht naiv gezeichnete Amerikanerin namens Sally taucht auf, die der Erzählerin erklärt, wie lange her die Fünfzigerjahre inzwischen sind: "you were another person". Und ein freundlicher Psychotherapeut in Zürich attestiert der Erzählerin, dass man nicht nur aus Verdrängungsgründen Dinge vergessen kann, sondern auch, weil man sie schlicht für unwichtig erachtete.
Der erste Eindruck von dieser Ebene des Buches ist: Eine identifizierende Lektüre wird etwa Nachgeborenen nicht unbedingt dabei helfen, sich ein deutliches Bild von den Verhaltensmustern ihrer Eltern und Großeltern in der DDR zu machen. Etwas leicht Heldisches und gebrochen Märtyrerhaftes ist in Christa-Wolf-Erzählerinnen immer drin. In dem neuen Buch etwa dann, wenn sie von ihren Herzrhythmusstörungen nach ihrer Rede bei der Novemberdemonstration auf dem Alexanderplatz kurz vorm Mauerfall erzählt.
Es gibt aber noch (mindestens) eine andere Ebene, und die könnte den Roman zu einem Bewusstseinsdokument allerersten Ranges machen. Eingewoben in den Text hat Christa Wolf nämlich den Lebensroman einer Intellektuellen, die in ihrer Jugend vom Umfeld dissidentischer Würde und literarischer Hochernsthaftigkeit geprägt wurde und im Alter die Entwertung dieser Prägungen verarbeiten muss. Anhand von Erinnerungen an ihren Freund Lew Kopelew erzählt sie von einer Zeit, als Namen wie Brecht und Anna Seghers noch auratisch aufgeladen waren. Im Kalifornien der Neunzigerjahre stößt sie dann aber auf eine Buchhandlung, in der ein Buch Kopelews direkt neben dem Sex-Buch von Madonna liegt - was sie nur als narzisstische Kränkung begreifen kann (auf den auch möglichen Schluss, dass selbst im Mekka der Konsumkultur Platz für ein Kopelew-Buch ist, kommt sie gar nicht).
Überhaupt scheint die Erzählerin mit der Gegenwart der USA kaum etwas Substanzielles anfangen zu können. Stattdessen Gespräche über Einstein, Feuchtwanger, Thomas Mann. Gelegentlich träumt sich hier eine Autorin in die Vergangenheit deutscher Exilanten in Pacific Palisades geradezu zurück. Wer Christa Wolf mal nicht literaturwissenschaftlich nach spezifischen Problemlagen weiblichen Erzählens befragen oder als Spielball in Stasidebatten benutzen will, findet reichhaltiges Material, um ein historisch werdendes Intellektuellen-Bewusstsein zu rekonstruieren.
Der Schriftsteller Ingo Schulze, in der Berliner Akademie frischgebackener Direktor der Sektion Literatur, übernahm die Moderation des Abends souverän und, wie es sich gehört, freundlich der Autorin zugewandt. Nur einmal leistete er sich eine winzig kleine Piksigkeit. Gleich zu Beginn hatte Christa Wolf von ihren Problemen erzählt, mit dem blauen Pass der DDR 1992 in die USA einzureisen, "mit dem noch gültigen Pass eines nicht mehr existierenden Landes". Ingo Schulze merkte am Schluss an, dass dieser Pass in der DDR nicht allen Menschen zugänglich war. "Ich wusste noch nicht mal, dass der Pass der DDR blau ist." Ein klitzekleiner Hinweis auf die Privilegien, die manche Schriftsteller in der DDR genossen. Es gehört zum ganzen Bild festzustellen, dass auch so eine Privilegiertheit von Intellektuellen mit der DDR untergegangen ist. Man kann halt nicht alles haben.
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