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China, Sonderwirtschaftszonen, Global Cities etc.Schindlers Hongkong-Liste

Der Aufzugbauer muss Silvesternacht die Aufzüge stilllegen

Wenn die Nacht der Superlative nur noch Geschichte ist, erst dann wird John Free mit seinen Kollegen von Schindler Hongkong anstoßen und anschließend zu Bett gehen. Wie tausende von Sicherheitskräften und Programmierer wird der Bereichsleiter des Aufzugherstellers die Silvesternacht in Bereitschaft sein, denn der mögliche Millennium-Bug zwingt die Firma, am 31. 12. 1999 ab etwa 23.55 Uhr zahlreiche Aufzüge für etwa eine Stunde stillzulegen und zu warten. Dann werden Zigtausende in Hongkong Räume betreten, die sie noch nie zuvor gesehen haben: Feuertreppen und Notausgänge. Dann heißt es: Treppen steigen. 18, 25 oder 30 Stockwerke hoch. Dabei reden wir gar nicht über die 70- und mehr -geschossigen Türme wie den der Bank of China, sondern über die durchschnittlichen Wohngebäude. Sechs Millionen Menschen müssen auf der kleinen, felsigen Insel untergebracht werden, da ist kein Platz für komfortable Wohnanlagen im europäischen Stil.

Am Times Square sind die Fahrstühle verglast und mit Lichterketten weihnachtlich beleuchtet. Sie rasen in das zwölfte und dreizehnte Stockwerk hoch, in das Food-Forum mit einer ebenso reichhaltigen wie kostspieligen Auswahl an chinesischer Cuisine. Wer hier wenige Minuten vor Mitternacht stecken bleibt, kann wenigstens mit Panoramablick telefonieren.

An das Einkaufszentrum ist eine zwei Stockwerke hohe Fernsehwand angebracht. Davor wird der Teil der Hongkong-Chinesen, der sich später durch die schmalen Gassen von Lon Kwai Fong zur Millennium-Bug-Party schieben wird, das neue Jahr anzählen. Auf dem mit Marmor gepflasterten Platz drängen sich schon an normalen Tagen tausende, um in den Boutiquen und Shops auf neun Etagen einzukaufen. Am Freitag werden auch diese Geschäfte für den Jahrhundertumsatz geöffnet haben.

Mit ausgestrecktem Arm sind die letzten, etwas älteren Häuser des Viertels fast erreichbar. Die meisten Wohnungen sind bereits leert. Nur im zweiten Stock wohnt noch eine alte Frau. Die sitzt Abend für Abend an ihrem Küchenfenster und sieht fern. Auf einer Leinwand, die so groß wie ihre gesamte Wohnung ist. Besonders scheint ihr der Spot von Omega zu gefallen. Während die schwarze Motorjacht von Bond entlang der Themse durch ihr Zimmer jagt, blickt sie von ihrer Suppenschüssel auf und folgt dem überdimensionierten Stundenzeiger aus der Werbung.

Im obersten Stockwerk des Times-Square-Einkaufszentrums aber werden sich die jungen Hongkong-Chinesen in der Silvesternacht entscheiden müssen zwischen der stählernen Armbanduhr, der die Welt nicht genug ist, und der goldenen Patek Philippe, mit der die eigene Tradition beginnen soll.Thomas Sakschewski

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