China, Sonderwirtschaftszonen, Global Cities etc.: Ein Böller für Hiroshima
In Hongkong gab es zum Jahrtausendwechsel historische Performances und eine fast zwölfstündige Shoppingpause
Redlich bemühen sich die vier Schauspieler und eine Sängerin im Stück „Die vier großen Erfindungen“, dem Bildertheater von Zuni Icosahedron Ausdruck zu verleihen. Das Publikum ist jung und erwartungsfroh. Die Performance alt und erstarrt. Auf der Bühne ein langer schmaler Tisch und als Spiel nur sie selbst. Sie und ihre sich wiederholenden Gesten, die sie in ihren schwarzen Anzügen mit dunkler Krawatte und weißen Handschuhen vorführen.
Nach dem ersten Drittel der Theaterperformance, die am 31. 12. in der City Hall von Hongkong Premiere feierte, empfindet man die projizierten Piktogramme und den bedeutungsvollen Bariton nur noch als ermüdend. Dann beginnt zum metallischen Scheppern der „Internationale“ Judy Garland vom glücklichen Land hinter dem Regenbogen zu singen. Fragen werden im Bühnenhintergrund auf eine Leinwand projiziert, so wie es sich für ein ernsthaftes Theaterstück gehört. Viele Fragen, denn es ist ja auch viel passiert in diesem Jahrhundert, und diese Performance möchte ein Jahrhundertwerk sein. Am Anfang war das Licht, die Farbe, die Form und so weiter, steht da, und über das, was dann folgte, vergehen die ersten vierzig Minuten. Antworten sind bis dahin noch nicht gegeben worden.
Kompass, Druckmaschine, Schießpulver, Papier. Diese vier Erfindungen sollen das 20. Jahrhundert umreißen, doch da das eine nicht auf das andere aufbaut, unterbricht Danny Yung, der künstlerische Leiter, Ideengeber und Initiator der 1982 gegründeten Künstlergruppe, die mittlerweile ein wichtiger Orientierungspunkt in der überschaubaren Kulturlandschaft von Hongkong darstellt, jeden Akt, jede Erfindung also, mit einem Kanonenschlag, auf den der Vorhang folgt.
Während in der City Hall weiter das Jahrhundert mit aller Schwere und Tiefsinnigkeit befragt wird, strömen draußen zigtausende in Lan Kwai Fok und am Times Square zusammen, um auf haushohen Leinwänden die Videoübertragungen von den Silvesterpartys rund um den Erdball zu verfolgen.
Viel weniger Menschen wollen unweit der City Hall die Heilsbotschaften der Baptisten und die Forderungen nach einem demokratischeren Jahrhundert hören. Zwischen Hongkong Bank und Ritz Carlton sprechen die Menschrechtsaktivisten sich für ein besseres Hongkong aus, in dem die bürgerlichen Rechte respektiert werden. Die Damen in Abendgarderobe und die Herren in Smoking, die auf dem Weg zu einem der zahllosen Empfänge in den Hotellobbys in der Nähe hier vorüber flanieren, verharren kurz und schauen auf die kleine Bühne, um dann weiter zu ihrer Party zu ziehen.
Im Ritz Carlton verläuft der Wechsel in das neue Jahr ohne Probleme. Schon zehn Minuten nach Mitternacht fuhren die holzverkleideten Fahrstühle mit Kronenleuchter innen wieder reibungslos nach oben, und von der Welt da draußen hat man auch um Mitternacht weder ein Glockengeläut noch eine Schiffssirene gehört. So konnten sich die etwa achtzig Gäste aus allen Ecken der Welt ganz auf den beruhigenden Klang der Sektflöten konzentrieren. Erst am frühen Morgen, als die Band ihre Instrumente einpackt, wagen ein paar von ihnen eine kleine Runde um den Block. Da ist es dann schon um einiges ruhiger, die Straßen sind leer, und so machen sie sich auf zur nächsten Party in der nächsten Hotellobby.
Zu diesem Zeitpunkt ist auch die letzte Erfindung in der City Hall längst zu einem Ende gekommen. Als auf der Leinwand der Atompilz empor wächst und ein Schriftzug darin erscheint, ist das eineinhalbstündige Lehrstück über das Jahrhundert vorüber. „You have seen nothing“ steht dort erst und wird dann überblendet zu „in Hiroshima“. Voller Fragen antwortet das Publikum behutsam mit Beifall.
Doch die einzige Katastrophe, die in dieser Nacht passiert, ist von ganz anderer Art: Für fast zwölf Stunden sind alle Geschäfte geschlossen. Das kann in dieser Stadt durchaus zu Entzugserscheinungen führen. Deswegen sind ab elf Uhr am 1. Januar auch alle Shopping-Malls überfüllt mit Menschen, die wirklich wichtige Fragen zu beantworten haben: Welche Schuhe kaufe ich heute – und wo?
Thomas Sakschewski
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