China-Roman von Stephan Thome: Als der Westen sich überlegen fühlte
Millionen Menschen starben bei einem Aufstand in China – mittendrin Europas Kolonialmächte. Davon erzählt Stephan Thome in seinem Roman.
In einer der eindrücklichsten Szenen des Romans sucht Lord Elgin, der britische Sonderbotschafter in China, ausgerechnet im „Garten der vollkommenen Klarheit“ verzweifelt nach dem berühmten Sommerpalast. Es ist Herbst, er hat Fieber, dennoch will er sich einen Eindruck vom frisch eroberten Terrain verschaffen.
Allein irrt er durch das Gelände, das ihm in seiner verspielten Pracht auf die Nerven geht, er stößt auf Leichen im See, ärgert sich über Plünderung und Verwüstung, die britische und französische Truppen bereits hinterlassen haben, und begegnet sogar, am Fuß des bereits mit „Rule, Britannia!“ beritzten kaiserlichen Throns, seinem kürzlich von den Chinesen getöteten Sekretär Maddox: eine Geistererscheinung. Kurz darauf erteilt er den Befehl, das ganze Areal niederzubrennen.
Die Zerstörung des Sommerpalastes im Oktober 1860 war mehr als die kalkulierte Vergeltungsaktion für ein halbes Dutzend getöter Geiseln. Sie war Ausdruck tiefer Missachtung der chinesischen Kultur gegenüber, der sich das Empire als liberale Kolonial- und Handelsmacht haushoch überlegen wähnte.
Und doch ist diese Auslöschung ähnlich aus dem westlichen Fokus geraten wie der historische Hintergrund, vor dem sie stattfand. Die Taiping-Rebellion, in der zu einem radikalen Christentum konvertierte Chinesen den mandschurischen Kaiser und seine korrupten Mandarine stürzen wollten, zog einen Bürgerkrieg nach sich, in dem 20 bis 30 Millionen Menschen starben.
Der Sinologe und Philosoph Stephan Thome hat sich als Schriftsteller bisher vor allem für die Brüche im Leben von Akademiker*innen interessiert. Jetzt versucht er mit seinem vierten Roman „Gott der Barbaren“, ein umfassend recherchiertes Panorama jenes west-östlichen Kulturkampfes zu zeichnen, in dem sich viele Konflikte von heute spiegeln. Mit drei Protagonisten in unregelmäßig wechselnden Erzählsträngen fächert Thome die Perspektiven auf.
Gutwillige Glücksritter
Der preußische Ex-Revolutionär Philipp Johann Neukamp ist darunter die einzige fiktive und dennoch nicht unplausible Figur, die ihre überraschende Abgründigkeit erst am Schluss offenbart. Der sprachbegabte Zimmermannssohn, der zunächst aus der Ich-Perspektive erzählt, ist eine Art Jedermann der Kolonisation, ein entwurzelter, gutwilliger Glücksritter, der nach der gescheiterten Revolution von 1848 einen Missionsposten in dem Opiumschmugglerdorf Hongkong annimmt. Die Missionsschwester, in die er sich dort verliebt, weist seinen Heiratsantrag zurück, weil er nicht gläubig genug ist – vielleicht reist er deshalb nach ihrem Tod ins Gebiet der Rebellen. Eine Schiffsreise durch dunkle Gewässer, die an Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ erinnert und im Verlust von Neukamps linker Hand gipfelt.
Doch selbst als er später von den „Langhaarigen“ zu einer Art Nebenkönig „Heiliges Gefäß“ ernannt wird – hier wechselt Thome merkwürdigerweise eine Weile in die auktoriale Erzählhaltung –, bleibt ihm deren synkretistischer Ideologiemix aus traditioneller Magie und Urchristentum fremd.
Stephan Thome: "Der Gott der Barbaren". Suhrkamp, Berlin 2018, 719 Seiten, 25 Euro
Nicht nur an Neukamp nagen Zweifel. Auch der historische Kolonialpolitiker James Bruce, Earl of Elgin, dessen Briefwechsel mit seiner Frau Mary Louisa Thome gründlich studiert haben dürfte, fragt sich nach Einsätzen in Jamaika und Kanada nun auch in China, was er eigentlich am anderen Ende der Welt sucht. Mit strikt aus Elgins Perspektive erzählten Passagen fühlt Stephan Thome sich suggestiv in den machtbewussten Strategen ein und zeichnet das Porträt eines Wegbereiters der Globalisierung, den weder Frau noch Kinder zu Hause halten können und der dafür den Preis andauernder Melancholie bezahlt.
„Lotusfüßige“ Sexsklavin
Immer wieder muss Elgin die auch militärische Erpressung von sogenannten Handelsverträgen sich oder anderen gegenüber fortschrittsphilosophisch legitimieren, und auch seine Gin-befeuerten Monologe gegenüber einer „lotusfüßigen“ Sexsklavin zeigen, dass ihm diese britische Praxis zunehmend unter die Haut geht. Und doch platzt ihm beim Irrgang durch den Sommerpalastgarten der Kragen: „Es war dieselbe Scheinwelt, in der China seit zweitausend Jahren vor sich hin vegetierte. Nicht nur ohne Fortschritt, sondern ohne Bewegung.
Den Kompass hatten sie erfunden und trauten sich nicht aufs Meer; das Schießpulver, aber ihre Kanonenrohre platzten nach dem dritten Schuss; den Buchdruck, nur um immer wieder die gleichen hohlen Sinnsprüche zu produzieren. Eine ganze Zivilisation, die sich mangels Vision abschottete und einigelte. Statt einmal ins Weite zu schweifen und Möglichkeiten zu erkennen, blieb der Blick am nächsten hübschen Kleinod hängen“, so pointiert schildert Thome den chauvinistischen Fieberschub des Lords.
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Obwohl der Autor sich gerade nicht über seine historischen Figuren erhebt, sie als reflektierte komplizierte Charaktere zeichnet, ist es oft ein schmaler Grat, sie dennoch nicht allzu nachdrücklich durch die postkoloniale Brille zu inszenieren. Das gilt auch für den dritten Protagonisten Zeng Guofan, ebenfalls eine reale historische Figur. Der General der Hunan-Armee sieht den starken Zentralstaat von drei Seiten bedroht: durch die militärisch zunächst äußerst erfolgreiche Rebellion von innen; durch die „ausländischen Teufel“, die vom chinesischen Bürgerkrieg gnadenlos profitieren, von außen; und schließlich durch den mandschurischen Kaiser selbst, der ganz dem Privatleben unter Konkubinen frönt.
Thome schildert Zeng Guofan als eisern disziplinierten Intellektuellen, der seinerseits eng eingebunden ist in streng kodifizierte Lehrer-Schüler-Strukturen, in denen erwachsene Männer sich mit vertrackten Essay-Hausaufgaben bestrafen und das Strategiespiel Go als Blaupause fürs Leben gilt. Wer dächte nicht an das China von heute, wenn Zeng Guofan seinen Schüler belehrt, dass er den Feind beobachten und verstehen muss, um ihn zu schlagen?
Und doch ähneln einige Argumente des Generals, der sich auf den „nationalistischen“ Philosophen Wang Fuzhi (1619–1692) beruft, denen des Lords auf verblüffende Weise: Beide sind Vertreter männlich definierter Weltbilder, die nichts mehr fürchten als „Verweiblichung“, sprich Kontrollverlust.
Im Wechsel dieser drei Perspektiven erzählt Stephan Thome fast beiläufig von den eigennützigen Allianzen der Engländer und der blutigen Zurückdrängung der Rebellen. Das chinesische Volk taucht dabei meist nur als Masse auf, und sei es von Leichen, die als dichter Teppich den Yangtze hinabtreiben. Hier spiegelt Thomes Gewichtung bewusst den Stand der Überlieferung, nicht die historische Realität, mit einer Ausnahme: Ein renitenter Buchdrucker und seine Tochter, die Neukamp nach seiner Amputation versorgt, repräsentieren in einem eigenen Dokumentenstrang die Opfer beider gleich grausamer Systeme, des kaiserlichen wie des rebellischen.
Dass zudem Philipp Neukamps abenteuerliche Odyssee gegenüber den reflexiveren Parts von Zeng Guofan und Lord Elgin eine wichtige Entlastungsfunktion erfüllt, merkt man spätestens, wenn er im letzten Drittel als gehätschelter, opiumbedröhnter Pseudokönig fast ausfällt.
Dennoch taucht man in die Fülle an Figuren und Entwicklungen auch deshalb mit gespannter Aufmerksamkeit ein, weil Stephan Thomes meist schnörkellose, dabei äußerst lebendige Sprache ihren Standpunkt in der Gegenwart nicht verleugnet und letztlich alle Perspektiven miteinander verbindet. Dabei gelingt Thome das Außerordentliche, die Geschichten dreier Sieger oder zumindest Überlebender – denn das sind Elgin, Zeng Guofan und Neukamp am Ende auf je ihre Weise – als unaufhaltsame Niederlagen zu erzählen: als Verlust von Identität, Familie und Mitgefühl.
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