Chiles Expräsident über Studentenproteste: "Die Jugend drängt weiter"

Chiles Expräsident Ricardo Lagos spricht über die Linken in Südamerika, andauernde Studentenproteste in seinem Land und das Erbe Pinochets.

"Die Ära des Übergangs scheint zu Ende zu gehen": protestierende Studenten in Chile. Bild: dpa

taz: Herr Lagos, im Januar 2000 wurde mit Ihnen zum ersten Mal nach dem Ende der Militärdiktatur wieder ein Kandidat der Sozialistischen Partei zum Präsidenten Chiles gewählt.

Ricardo Lagos: Wir verstanden unsere Regierung damals als eine, die an die Grenzen des Möglichen gehen sollte. Nach zehn Jahren Übergangsregierung der Concertación (Zusammenschluss der Mitte-links-Kräfte gegen die Anhänger der Diktatur) schien es uns an der Zeit, notwendige Veränderungen voranzutreiben, um die autoritären Hinterlassenschaften der Ära Pinochet zu überwinden.

Was waren die wichtigsten Veränderungen, die ihre Regierung durchsetzen konnte?

Nun, die Oberkommandierenden der Armee sind jetzt absetzbar, unterstehen der zivilen Ordnung. Es gibt keine ernannten Senatoren mehr und es ist Schluss mit der unkontrollierbaren Macht des Nationalen Sicherheitsrats. Das waren Instrumente der alten Diktatur, um das alte System aufrechtzuerhalten. An der Reform des ungerechten Wahlsystems sind wir allerdings bislang gescheitert.

Stationen: geboren 1938 in Santiago de Chile, Anwalt und Ökonom. Mitglied der Sozialistischen Partei Chiles. Nach dem Militärputsch 1973 im Exil in Argentinien und den USA. 1978 Rückkehr nach Chile. Ab 1980 Vorsitzender der Demokratischen Allianz (Bündnis der demokratischen Opposition gegen die Pinochet-Diktatur).

Präsidentschaft: Führte nach dem Wahlsieg der Concertación von 2000 bis 2006 die Mitte-links-Regierung in Chile an. 2007 gründete er in Santiago die Stiftung "Demokratie und Entwicklung" und wurde UN-Sondergesandter für Klimaschutz. Das Gespräch wurde auf Spanisch geführt.

In Chile ist das Thema der Menschenrechte und der Diktaturverbrechen bis heute umstritten, wie gingen Sie damit um?

Das Thema Menschenrechte ist bis heute umkämpft. Aber wir konnten einiges erreichen. Erfreulicherweise gelang es uns zum Beispiel, die nationale Untersuchungskommission zu politischer Haft und Folter (Comisión nacional sobre prisión política y tortura) einzurichten.

Ihre Regierung beschloss verschiedene Freihandelsabkommen. Dank des Exportüberschusses hat Chile seit Jahren das höchste Wirtschaftswachstum in Lateinamerika …

Auch wenn du ein kleines Land bist, öffnest du dir damit die Welt, denn in dieser Welt findet der Wettbewerb statt.

Aber trotzdem leidet Chile weiterhin unter einem großen Einkommensgefälle und einer enormen Kluft zwischen Arm und Reich. Warum befördert die gute ökonomische Situation keine gerechtere Gesellschaft?

Als 1990 die Concertación erstmals nach der Diktatur Pinochets an die Regierung kam, gab es 40 Prozent Armut im Land. Als ich 2000 für die Concertación zum Präsidenten Chiles gewählt wurde, waren es noch 22 Prozent. Und weitere sechs Jahre später, am Ende meiner Amtszeit, waren es noch 13 Prozent. Das ist nicht so schlecht. Doch einer Reform der Steuergesetze, einer Umverteilung der Einkommen hat sich die Rechte stets widersetzt.

Wegen der autoritären Überreste des Regimes, den ernannten Senatoren, hatte die Rechte immer eine Sperrmehrheit im Senat. Wir konnten dort immer nur aus der Minorität regieren. Immerhin konnten wir aber die Kapitalflucht von 25 Prozent auf 16 Prozent senken. Doch 22 Jahre nach dem Ende der Diktatur scheint in Chile die Ära des Übergangs zu Ende zu gehen - politisch, sozial und wirtschaftlich. Die Studenten protestieren auf den Straßen.

Nach wie vor muss man in Chile ein Hochschulstudium teuer und zumeist privat bezahlen. Viele Familien können sich das nicht leisten, Bildung ist von der Diktatur bis heute ein profitables Geschäft geblieben?

Ja. Trotzdem möchte ich hinzufügen: Das System ist seit 1990 viel durchlässiger geworden. Heute stammen sieben von zehn Studenten aus Nichtakademikerfamilien. Die heutigen Proteste kommen zumeist aus dem Mittelstand, nicht von den ganz Armen. Die Leute protestieren, weil achtzig Prozent der Studiengebühren privat getragen werden. Die Jugendlichen, die protestieren, sind Töchter und Söhne der Demokratie. Es gibt dieses Graffito: "Sie haben Angst vor uns, weil wir keine Angst haben." Und das stimmt: Sie sind nach 1990 geboren.

Im August wurden Sie beim Verlassen der Universität in Viña del Mar selbst von aufgebrachten Studenten wütend beschimpft. Was haben Sie da gedacht?

Das waren vielleicht zwanzig Jugendliche. Zuvor im Saal hörten mir vierhundert Studenten in Ruhe zu. Es ist aber völlig in Ordnung, sich zu äußern, wenn einem etwas nicht gefallen hat. Dafür leben wir in einer Demokratie.

Die chilenische Studentenbewegung macht nicht nur die derzeitige rechte Regierung Piñeiras, sondern auch Sie und die früheren Regierungen der Concertación für die Misere im Bildungssystem mit verantwortlich.

Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie in Chile war zäh. Bis 1998 blieb der Diktator Oberbefehlshaber des Heeres. Im Senat blockierten die ernannten Senatoren die gewünschten Bildungsreformen. Man muss die Dinge in ihrem historischen Kontext beurteilen. Die Jugend heute drängt jedoch weiter. Sie weiß nicht, warum sie sie sich damit noch befassen soll und sagt: "Das ist euer Problem, nicht unseres. Wir fordern eine Veränderung."

Verständlich?

Ich sage: Das ist in Ordnung, doch lasst mich bitte erklären, warum die Dinge in der Vergangenheit so liefen, wie sie liefen.

Kann die chilenische Rechte, die Regierung Piñeira, die aktuellen Forderungen der Studierenden weiterhin einfach ignorieren?

Die jetzige Regierung geht mit den Protesten wie mit irgendeinem x-beliebigen Konflikt um. Sie begreift nicht, dass sie Ausdruck des Endes der Ära des Übergangs zur Demokratie sind. Die Leute orientieren sich nicht mehr an den Errungenschaften der Vergangenheit, sie wählen die Zukunft.

Was wären die wichtigsten Reformschritte?

Zum Beispiel die Abschaffung des Zwei-Kandidaten-Mehrheitswahlsystem, eine automatische Einschreibung in die Wählerlisten, damit alle wählen können. Das Bildungssystem muss grundlegend verändert werden und die Steuergesetzgebung muss eine gerechtere Verteilung der Einkünfte garantieren.

Wie andere Staaten Südamerikas erzielt Chile seine Gewinne hauptsächlich aus dem Export von Rohstoffen wie dem Abbau von Kupfer. Damit gehen gravierende Umweltzerstörungen einher. Wo sehen Sie Möglichkeiten einer nachhaltigen Ökonomie für Chile?

Chile war schon immer eine Bergbaunation. Zuerst Silber, dann Kupfer, später Salpeter und dann wieder Kupfer. Trotzdem kann man mit den Einnahmen aus dem Verkauf von Rohstoffen nicht einfach den laufenden Staatshaushalt finanzieren. Während meiner Regierung begannen wir damit, Sondersteuern auf den Abbau zu erheben, um mit diesen zusätzlichen Mitteln stärker in Forschung und Entwicklung neuer Technologien zu investieren. Eines Tages werden die natürlichen Ressourcen ausgeschöpft sein. Es kommt also darauf an, den jetzigen Kupferboom und wirtschaftlichen Aufschwung für die Zukunft zu nutzen.

Umweltorganisationen und lokale Bevölkerungsteile fordern immer öfter ein Ende der Zerstörung und eine stärkere Beteiligung an den Gewinnen.

Chile verfügt über Gesetze zum Schutz der Umwelt, deren Standard weit über dem anderer Staaten liegt. Entscheidend ist, dass die Gesetze zur Anwendung gebracht werden. Im Bergbau muss aber die Entwicklung schnell vorangebracht werden. Kupfer sollte bald kein einfaches Standardprodukt mehr sein, sondern verschiedene Preise haben, je nachdem wie hoch der Emissionsverbrauch bei der Gewinnung war. Das darf nicht länger gleichgültig sein.

Mit der Wirtschaft wächst auch der Energieverbrauch. Wie wird Chile künftig seinen Energiebedarf decken? Die Regierung verhandelte vor Fukushima mit den USA über die Errichtung eines ersten Atomkraftwerks.

Es gibt ein vor und ein nach Fukushima. Hätten Sie mich vor dem Unglück befragt, hätte ich keinen Grund gesehen, warum Chile nicht auch Atomenergie nutzen sollte. Unsere Nachbarstaaten Brasilien und Argentinien tun dies ja auch seit Jahren. Doch jetzt kenne ich niemanden, der sagen würde: "Lasst uns mit der Atomenergie weitermachen." Manche behaupten höchsten noch, man solle weiterforschen.

Und was raten Sie?

Wir sollten auf die Entwicklung alternativer Technologien setzen. Sonnenenergie aus der chilenischen Wüste wäre zum Beispiel optimal. Damit ließen sich auch die CO2-Emissionen bei der Kupfergewinnung in Nordchile deutlich senken. Ich denke, das ist der Weg den wir beschreiten sollten.

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