Chemieindustrie gegen Klassifizierung: Machtkampf um ein Weißpigment
Die Industrie hat eine Kennzeichnung von Titandioxid als krebserregend bisher verhindert. Nun steht das Thema wieder auf der Agenda.
Auf ihrer aktuellen Sitzung könnte der Ausschuss entscheiden, dass feste oder flüssige Mischungen, die mindestens 1 Prozent Titandioxid-Partikel enthalten, gekennzeichnet werden müssen. Auf den Etiketten von Flüssigkeiten könnte dann der Hinweis prangen: „Achtung! Beim Sprühen können gefährliche lungengängige Tröpfchen entstehen. Aerosol oder Nebel nicht einatmen!“ Auf den Packungen mit Pulvern würde entsprechend vor Stäuben gewarnt. Von der ursprünglich vorgesehenen generellen Kennzeichnung sei die EU abgerückt, beklagt Tatjana Santos vom Europäischen Umweltbüro in Brüssel: „Die Industrie hat sich mit ihren Forderungen durchgesetzt.“
Die Unternehmensverbände laufen Sturm, seit ein Expertengremium im Frühsommer 2017 eine Kennzeichnung für Titandioxd-Stäube forderte. Zahlreiche „Brandbriefe“ wurden nach Brüssel geschickt, Industrielobbyisten luden zu „Informationsfrühstücks“ ein. Anfang der Woche warnte der Verband der chemischen Industrie vor den „enormen wirtschaftlichen Folgen einer Klassifizierung“. Man halte eine Folgenabschätzung für dringend notwendig.
Es geht um viel Geld: Die Lobbyvereinigung der Titandioxid-Hersteller beziffert den globalen Marktwert ihrer Branche auf 3 Milliarden Euro, in Europa wird jährlich etwa eine Million Tonnen der Chemikalie produziert. Das Pigment macht zahlreiche Alltagsprodukte weiß oder glänzend, Tabletten, Zahnpasta, Kunststofffenster, Wandfarben, Kosmetika und Spielzeug, Mozzarella, Kaugummis, und Zuckerguss. Die Chemieindustrie fürchtet allerdings vor allem, mit Titandioxid werde ein „Präzedenzfall“ geschaffen. Sie möchte nicht eine bestimmte Chemikalie behandelt wissen, sondern allgemeine Regeln für alle Stäube.
Foodwatch fordert Dr. Oetker zum Rückruf auf
Die Umweltverbände sehen das anders. „Es gibt zwar bislang keinen Hinweis darauf, dass der Stoff hochgradig gefährlich ist“, sagt Rolf Buschmann, Chemikalienexperte bei der Umweltorganisation BUND, „aber wenn er als Staub oder Tröpfchen eingeatmet wird, besteht das Risiko, dass er Krebs auslöst.“ Stäuben seien vor allem ArbeiterInnen ausgesetzt, etwa wenn sie Farbe mit Sprühpistolen verwenden oder in Fabriken arbeiten, in denen Titandioxid in Pulverform verarbeitet wird.
Die Verbraucherorganisation Foodwatch geht noch einen Schritt weiter. Sie hat vor einigen Wochen eine Kampagne gegen E 171 gestartet und fordert den Bielefelder Pudding-Konzern Dr. Oetker zum Rückruf bestimmter Backzutaten auf, weil sie Titandioxid in Nano-Form enthalte. Als „potenziell krebserregender Stoff“ solle E 171 aus der Zutatenliste verbannt werden, so Foodwatch.
Damit liegt die Organisation auf einer Linie mit der Regierung Frankreichs, die den Stoff ab 2020 für ein Jahr als Lebensmittelzusatz verbietet. Sie beruft sich dabei auf das Vorsorgeprinzip, weil die zuständige französische Agentur für Lebensmittelsicherheit die Datenlage in Bezug auf Titandioxid für zu schlecht hält, um Gesundheitsgefahren einschätzen zu können. Das deutsche Institut für Risikobewertung hingegen sieht keinen Anlass, Titandioxid als Lebensmittelzusatz als gefährlich einzustufen, und hält daher auch weitere gesetzliche Regelungen für notwendig.
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