Charlotte von Mahlsdorfs Nietenhose

GESCHICHTE Das Schwule Museum* bietet nicht nur Ausstellungen, sondern auch eine große Spezialbibliothek und ein umfangreiches Archiv. Die Nachlässe aus DDR-Zeiten sind gesichtet – harren aber einer Aufarbeitung. Da stecken viele Themen für Doktorarbeiten drin

■ 1984 zeigte das Berlin Museum mit „Eldorado – Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850–1950“ die erste Ausstellung, die sich mit Forschungen zu homosexuellem Leben beschäftigte. Die Schau kam gut an, die Macher gründeten am 6. Dezember 1985 das Schwule Museum. Ihre Ziele: die Vielfalt schwulen Lebens der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen und eine wissenschaftliche Aufarbeitung und Erforschung schwuler Geschichte gewährleisten. Von Anfang an war das Schwule Museum also nicht nur als reiner Ausstellungsraum gedacht, sondern auch als Archiv und Bibliothek.

■ Von 1989 bis 2013 lagen Museum, Archiv und Bibliothek im Herzen des Kreuzberger Homo-Kiezes am Mehringdamm, im gleichen Gebäude wie SchwuZ und Café Sundström. Weil die Räume aber langsam zu klein wurden und im Hinterhaus verstreut waren, zog das Schwule Museum* um – und trägt inzwischen ein Sternchen in Namen, weil es sich nicht mehr nur für Schwule, sondern für alle sexuellen Identitäten und Geschlechterkonzepte interessiert. Neues Domizil: eine frühere Druckerei in der Lützowstraße, Vorderhaus, doppelt so viel Ausstellungsfläche, rollstuhlgerecht, großer Bibliotheksraum, klimatisiertes Archiv. www.schwulesmuseum.de

VON MALTE GÖBEL
(TEXT) UND ANJA WEBER (FOTOS)

Im Karton, zwischen zusammengeknülltem Zeitungspapier, liegt Charlotte von Mahlsdorf: Sie trägt einen weißen Rollkragenpulli, der Mund ein charakteristischer Strich, die Augen versonnen in die Ferne gerichtet – beziehungsweise auf die Karton-Ecke. Die Büste von Kai Matwali wirkt zunächst täuschend echt und ist nur einer von diversen kuriosen Gegenständen, die das Archiv des Schwulen Museums* aufbewahrt.

Von Charlotte (1928–2002), der über Berlin hinaus bekannten transsexuellen Gründerin und langjährigen Leiterin des Gründerzeitmuseums Mahlsdorf, gibt es neben zahlreichen Dokumenten auch ein Kleid. Es ist schwarz, fast durchsichtig, mit silbernem Schmuck bestickt und erstaunlich schwer. Und ein Häubchen im 20er-Jahre-Stil, eine kurze Jeanshose – laut Zettel eine „Nietenhose um 1960“ – und eigentlich ein Paar Schuhe. Doch das ist derzeit als Dauerleihgabe im DDR-Museum von Eisenhüttenstadt ausgestellt. Alle Utensilien lagern im Keller des Museumsgebäudes in der Lützowstraße in Tiergarten, seit anderthalb Jahren neues Domizil des Schwulen Museums*.

Ein riesiger, weltweit einmaliger Bestand

Dass es viel mehr ist als ein reines Museum, ein riesiges Archiv und eine reichhaltige Fachbibliothek beinhaltet, ist jedoch nur den wenigsten bewusst. „Wir sind eine Forschungseinrichtung, ein Haus der Wissenschaften“, erklärt Dr. Jens Dobler, Leiter von Bibliothek und Archiv. Nirgendwo sonst gibt es so umfassende Materialien zur lesbisch-schwulen Geschichte.

Im lichtdurchfluteten Bibliotheksraum im 1. Stock stehen 19.000 Bücher in den Regalen, darunter Kunstbücher, Theoriebände, Belletristik und Biografien, dazu 3.000 Zeitschriften sowie 3.000 Videos und DVDs. „Wir haben alle Zeitschriften seit 1896 gesammelt“, erklärt Dobler. Damals erschien mit Der Eigene die erste schwule Zeitschrift überhaupt. „Unser Bücherbestand ist ab den 1950er Jahren nahezu komplett.“ Per Online-Katalog kann man von zu Hause recherchieren. Vor Ort gibt es Arbeitsplätze, Lesegeräte für Videos, DVDs und andere Medien – und einen bequemen Ledersessel. „Hier kann man täglich sitzen und forschen“, sagt Dobler. Rund 1.000 Nutzer_innen machen das jährlich.

Was man hier noch nicht sieht, ist der Bestand des Archivs, der im Keller lagert, in klimatisierten Räumen, um die Bestände zu schützen. Kistenweise stapeln sich hier weitere Bücher, 50.000 Flugblätter, Flyer und Plakate, zahllose Presseausschnitte, Fotos, Kostüme, Kunstwerke, Möbel und andere Einrichtungsgegenstände. Außerdem Nachlässe von Einzelpersonen sowie Archive von aufgelösten Organisationen. Das meiste ist noch nicht ausgewertet und katalogisiert, aber immerhin sind die Sachen hier vor Hitze, Kälte und Feuchtigkeit geschützt. Darunter einige Kuriositäten, etwa Stühle aus „Ellis Bierbar“, einer der ältesten und legendärsten Schwulenkneipen Berlins, eine Kiste voll mit Stiefeln – 40 Paare, die Spende eines Liebhabers – oder die VHS-Pornosammlung der Treibhaus-Sauna, immerhin 1.500 Stück. Und eben auch die Sachen von Charlotte von Mahlsdorf.

Die Aufarbeitung, also das Ordnen und Verzeichnen der Dokumente, dauert. Oft ist sie nur mit externen Mitteln möglich, wie bei den DDR-Nachlässen: Hier finanzierte die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eine halbe Stelle. Die Kulturwissenschaftlerin und Ausstellungsmacherin Kristine Schmidt hat in den vergangenen anderthalb Jahren die Bestände geordnet, in säurefreie Mappen sortiert und sogenannte Findbücher angelegt. Diese Findbücher stehen in der Bibliothek und sollen den Nutzer_innen einen Überblick verschaffen, was an Dokumenten vorhanden ist. Meist enthalten sie eine Bestandsgeschichte: Die Information, woher die Dokumente kommen, eine kurze historische Einordnung und eine Beschreibung des vorhandenen Materials.

Die DDR-Bestände sind teils nach Themen, teils nach Personen geordnet. Es gibt Teilnachlässe wie den von Charlotte von Mahlsdorf oder den Sexualwissenschaftlern Rudolf Klimmer und Otto Andree. Oder Bestände zur Aids-Hilfe der DDR, zum Film „Coming-Out“ (inklusive Original-Drehbuch), zu den Organisationen „Sonntags-Club“ und zur „Arbeitsgemeinschaft Courage“ sowie kirchlichen und weiteren Gruppen.

Zu Lesben und lesbischen Gruppen hat das Archiv vergleichsweise wenig. Jens Dobler verweist deshalb auf die Havemann-Gesellschaft und das Lila Archiv in Meiningen, die Dokumente zur Oppositions- bzw. Frauenbewegung sammeln. Auch das Spinnboden-Archiv in Berlin könnte mehr haben, hier gibt es neben einem großen Archiv zu lesbischem Leben ebenfalls eine recht große Bibliothek mit 10.000 Titeln.

Aber auch im Schwulen Museum* finden sich einige Schätze: „Gesperrt bis 2062“ steht auf einigen Mappen aus dem Mahlsdorf-Nachlass. Hier könnten möglicherweise die Rechte von noch Lebenden verletzt werden, wenn man diese Dokumente öffentlich zugänglich machen würde. Den womöglich brisanten Inhalt kennen nur Archivleiter Dr. Jens Dobler und Archivarin Kristine Schmidt.

Brisantes Material zu Charlotte von Mahlsdorf?

Was ist drin? Beide zucken bedauernd mit den Schultern. „Das könnten private Korrespondenzen sein, Bilder von Freunden und Sexkontakten“, erklärt Dobler betont allgemein.

Schade, dass er nicht mehr sagen darf: Es hatte ja immer wieder Kritik an Charlotte von Mahlsdorfs Sammeltätigkeit von Gründerzeitmöbeln gegeben und Gerüchte, dass sie nicht alles auf legalem Weg erworben hätte. Gut möglich, dass die unter Verschluss gehaltenen Akten dazu beitragen könnten zu verstehen, was für ein Mensch von Mahlsdorf wirklich war.

Doch auch unter den zugänglichen Dokumenten sind interessante Stücke: das Romanfragment „Die Peitsche“, weitere SM-Fragmente, etwa die (fiktive?) Annonce „älterer Maso-Sklave sucht Zuchtmeister“, Zeitungsausschnitte über die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an sie und den Nazi-Überfall auf das Frühlingsfest in ihrem Museum 1991, der Charlotte von Mahlsdorfs ins schwedische Exil trieb.

Der Bestand zum Sexualforscher Rudolf Klimmer verdeutlicht die Probleme, vor denen das Archiv steht. „Er hatte ein ganzes Zimmer voll mit Dokumenten“, erzählt Kristine Schmidt – doch nach seinem Tod 1977 wurde alles weggeworfen. Nur der Kollege Otto Andree hatte kurz vorher ein paar Kartons retten können. „Oft gab es keine Testamente“, erklärt Kristine Schmidt. „Und die Nachkommen wussten nicht, was sie mit dem Nachlass anfangen sollen.“

„Gesperrt bis 2062“ steht auf Mappen aus dem spannenden Nachlass von Charlotte von Mahlsdorf

Immerhin dokumentiert die Klimmer-Sammlung im Archiv nun, wie der Dresdener Arzt und Sexualwissenschaftler ab 1950 versuchte, sein Buch „Die Homosexualität als biologisch-soziologische Zeitfrage“ in der DDR zu veröffentlichten. In diesem erklärt er Homosexualität und fordert die Reform des von den Nazis verschärften Paragrafen 175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt. Acht Jahre versuchte Klimmer vergeblich, einen Verlag zu finden – dann kam es einem Hamburger Verlag für kriminalistische Fachliteratur heraus. Zahlreiche Briefe belegen, dass Klimmer auch Prominente anschrieb, um sie auf das Unrecht des noch gültigen Nazi-Paragrafen aufmerksam zu machen. Er selbst war während der NS-Zeit zweimal verurteilt worden.

Alltag und Stasi – hier lässt sich zu allem etwas finden

1968 strich die DDR tatsächlich den Paragrafen 175, Lesben und Schwule begannen, sich in Gruppen zu organisieren. Allerdings selten mit politischen Anliegen, meist stand Freizeitgestaltung im Vordergrund, etwa bei der Homosexuellen Interessengemeinschaft Berlin (HIB), die sich 1973 gründete.

Eine Sammlung widmet sich der „Arbeitsgemeinschaft Homosexualität ‚Courage‘“, die sich Anfang 1989 vom Sonntags-Club abspaltete und die Nähe des Deutschen Freidenker-Verbands suchte, einer regimenahen Vereinigung. Hier trafen sich Homosexuelle, denen der (anderswo als unpolitisch bezeichnete) Sonntags-Club zu „subversiv“ war, die also weitgehend SED-linientreu waren.

Die Stasi war trotzdem immer mit dabei, reagierte sogar bei diesen überzeugten Sozialisten mit Überwachung und Repression: Homosexualität war zwar nicht verboten, galt aber trotzdem als verpönt und potenziell gefährlich für den Staat.

In 34 Kisten aus säurefreier Pappe lagern die aufgearbeiteten DDR-Bestände des Schwulen Museums*. Derzeit recherchieren drei Studierende im Material für ihre Bachelor- und Doktorarbeiten. Mehr wären gern gesehen. Das Material ist da, jetzt muss es nur noch genutzt werden.