: Chaotisch wohnen in Peking
■ Chinas Hauptstadt präsentiert sich als riesiger Bauplatz, aber die meisten Familien leben immer noch beengt und ohne sanitäre Anlagen / Die Kommunen bevorzugen Prestigeobjekte / Begehrte Neubauappartements werden unter der Hand an die Verwandschaft und den Parteikader vergeben
Aus Peking Michael Magercord
Während seines Staatsbesuches Ende letzten Jahres fand der DDR– Staatsratsvorsitzende Erich Honecker ergreifende Worte für eines der größten Probleme in Peking: „Obwohl ich erst wenige Stunden in ihrem Land weile“, erklärte er, „hatte ich Gelegenheit, mich von einigen ihrer großen Aufbauleistungen zu überzeugen. Die Hauptstadt Chinas zeigt sich uns als riesiger sozialistischer Bauplatz.“ Und in der Tat sticht jedem Besucher die rege Bautätigkeit ins Auge. Von jedem Hügel in Peking blickt man auf wahrhaft riesige Baustellen, - allerdings nicht auf besonders sozialistische. „Das da hinten wird ein Hotel der mittleren Preisklasse, und dort entsteht eins in Luxusausführung. Wahrscheinlich wird es das höchste Gebäude Pekings“, erklärt zum Beispiel Herr Jin Besuchern die Skyline Pekings. Nach einem derartigen Spaziergang schnappt er sich dann wieder sein Fahrrad und radelt zurück in seinen beengten Altbau. Ähnlich geht es bei Familie Tian im Norden Pekings zu. In einer Wohnsiedlung aus den fünfziger Jahren teilen sich Eltern und die beiden jüngsten Söhne sowie deren Ehefrauen und Kinder eine kleine Zwei–Zimmerwohnung. Der älteste Sohn lebt mit Frau und Tochter in einem Zehn–qm–Raum einen Stockwerk tiefer. Das Zimmer liegt in einer Drei–Zimmerwohnung, die beiden anderen Räume bewohnt eine fünfköpfige Ingenieursfamilie. Küche und Toilette sind in der Wohnung installiert, was als sehr modern gilt. Duschen gibt es alllerdings nur am Arbeitsplatz. Die Tians sind eine ganz normale Großstadtfamilie. Zu viele Prestigebauten „Die Bautätigkeit konnte in einigen Städten nicht mit dem rapiden Anstieg des Lebensstandards mithalten“, erklärte Vizepremier Wan Li kürzlich vor der „Nationalen Konferenz für städtisches Bauen“. Zwar sind die letzten fünf Jahre die besten seit langem für die Bauwirtschaft gewesen. Allein im vergangenen Jahr verzeichnete die Branche einen Umsatzanstieg von 14,5 Prozent. Doch viele Gemeinden übernahmen sich finanziell, um diesen statistischen Aufschwung zu ermöglichen. Sie sparten beim Wohnungsbau und gaben alles verfügbare Geld für Hotels und Fabriken aus, und nun ist bei vielen Großvorhaben die Knete ausgegangen. Als Reaktion hat die Regierung in Peking bereits den Aufschub aller Bauvorhaben angeordnet, für deren Durchführung Äcker weichen oder Wohnungen plattgewalzt werden müssen. Für Bürotürme und Hotels müssen in Zukunft spezielle Genehmigungen eingezogen werden, und vor allem die kleineren Gemeinden sollen bei Prestigeobjekten langsam treten. 56 Prozent der Bautätigkeit in Peking gilt heute dem Wohnungsbau. Die Bauherren sind fast immer Fabriken, Institute oder Dienstleistungsbetriebe, die für ihre Arbeiter - je nach Finanzlage der jeweiligen Einheit - neue Unterkünfte bauen. Dabei werden die Wohnblocks oft irgendwo ins großstädtische Hinterland ge setzt, wo der Boden billig ist, aber der Verkehrs– und Kanalisationsanschluß oft lange auf sich warten läßt. „Der Staat weiß kaum, wie viele Häuser gerade gebaut werden“, klagte unlängst Li De vom Staatlichen Planungskomitee. Jetzt versucht die Regierung , Ordnung in das Chaos zu bringen und gleichzeitig die im Zuge der Reformen zu bescheidenem Wohlstand gekommenen Leute zu Bautätigkeit und Wohnungskauf zu animieren. Doch die niedrigen Mieten, bedauert Li, halten viele von entsprechenden Investitionen ab. Eine Zwei–Zimmerwohnung kostet heute zwischen einem und zwei Jüan im Monat; das entspricht dem Preis einer Schachtel Zigaretten. Selbst die meisten Großstadtbewohner befürworten inzwischen eine Erhöhung der Mieten für Privatwohnraum, und in Shanghai wird derzeit eine Erhöhung der Gewerbemieten ausprobiert. Auch derartige Experimente werden das Problem der Wohnungsknappheit kurzfristig kaum lösen. Fast 200 Millionen Chinesen in den Großstädten sind heute ungenügend mit Wohnraum versorgt. Begehrte Neubauwohnungen So sind und bleiben Neubauwohnungen äußerst knapp, und die wenigen geräumigen Appartements werden überdies nicht durch den Marktmechanismus an den Meistbietenden verteilt, sondern über die in China gängige Kader– und Vetternwirtschaft. Die „Chefs“ der Einheiten sichern sich selbst und ihrer Verwandtschaft die begehrtesten Objekte. Die Rechtfertigung fällt nicht schwer, denn stets gibt es einen Vorsitzenden, der über ein noch größeres und noch moderneres Appartement verfügt. Die Kette endet erst bei Deng Xiao Ping - aber wer will einem greisen und verdienten Staatsmann wie ihm schon die Pfründe streitig machen. Glück hat, wer in einem der Uraltbauten in der City wohnt, die bald irgendeinem Hotel oder Büro weichen müssen. Da ist zum Beispiel Herr Sheng. Er lebt in einem 200 Jahre alten Haus, und bald wird an dessen Stelle das neue Verkehrsministerium entstehen. Er wartet nur noch auf seinen Auszugsbefehl. Dann bekommt er eine „Luxuswohnung“ mit fließend Kaltwasser, Innentoilette und Küche gestellt. Nur wenige Straßenzüge mit historischen Altbauten stehen unter Denkmalschutz, doch selbst dort wird es von den Betroffenen keineswegs als Glück betrachtet. Besonders Pech hat das Ehepaar Li und Wang, das nicht nur in einer Schutzzone lebt, sondern sich auch noch zwei statt des einen staatlich empfohlenen Kindes zugelegt hat. Sie werden bei zukünftigen Wohnungsverteilungen als letzte berücksichtigt werden. Dafür haben andere Ehepaare gar zwei Wohnungen, wenn sie aus verschiedenen Einheiten kommen und zu ihrem ehelichen Domizil noch ihre Junggesellenappartements behalten. Wer endlich im Besitz einer begehrten Neubauwohnung ist, wird aber auch nicht unbedingt seines Lebens froh. Die Stromversorgung wird oft aus Sparsamkeitsgründen am frühen Abend unterbrochen. Und wenn der Fahrstuhl wieder einmal nicht läuft, ist Treppensteigen angesagt - oft bis zum 15. Stock. Stellt Erich Honecker fest: „Die neuen Wohnkomplexe verdeutlichen, daß auch in der VR China die Lebensbedingungen der Menschen im Vordergrund stehen. Harmonisch ergänzen sich historisch Gewachsenes und Neugeschaffenes.“
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