: Chance vergeben -betr.: "Opfer von Schuld befreit", taz vom 28.5.94
zu: „Opfer von Schuld befreit“ vom 28.5.94
„Hanan M. ... hat dem Täter die Freiheit geschenkt“ schreibt Eva Rhode. Wofür werden ausländische Mädchen noch alles verantwortlich gemacht, wenn die gesellschaftlichen und familiären Gewalterfahrungen zu einer Entscheidung führen, ihre Familie zu verlassen und unter anderem auch Gewaltverhältnisse dazu beitragen, wieder zurückzukehren?
Leider hat sich E. Rhode darauf beschränkt, ohne Kommentar vom Verlauf eines Prozesses zu berichten, in dem 1. die beiden Parteien eher an der Sitzordnung als an beinhalten der Zeugenbefragung und Positionen erkennbar war und 2. die strukturelle Gewalt nicht als Ursache benannt wurde; weder die von Männern gegenüber Frauen, noch die der Erwachsenen gegenüber Mädchen, ganz zu schweigen die, denen Ausländerinnen ausgesetzt sind.
E. Rhode hätte in ihrem Artikel dieses Versäumnis nachholen können. Diese Chance zur Sensibilisierung auf dem Hintergrund klarer Positionen hat sie nicht genutzt.
Es gab einen Prozeß, in dem die Staatsanwaltschaft die vom Gericht eindeutig benannte versuchte Tötungsabsicht zu einer gefährlichen Körperverletzung bagatellisierte und sich der Rechtsanwalt im Wesentlichen nur noch den Ausführungen des Staatsanwaltes im Plädoyer anzuschließen brauchte.
In der Urteilsbegründung werden kulturelle Differenzen benannt und das Problem „...über Dinge zu urteilen, die uns fremd sind“. Dies, die „erfolgreiche“ Familienzusamenführung, die Haltung des „Opfers“ und insbesondere das Anliegen, nicht weitere Schuldgefühle bei H. auszulösen, haben den Ausschlag für dieses milde Urteil geben. Kulturelle Werte und Normen, und damit männliche Werte und Normen, sind – wie überall – Ausdruck des Gewaltverhältnisses zwischen Männern und Frauen. Diese wurden zu Gunsten des Täters, aber auf Kosten des Mädchens/ aller Mädchen bedacht. Die Zuschreibung von Verantwortung an Mädchen, sowohl für den Anlaß des „Familiendramas“ (ihr Weglaufen) als auch für die „Familienzusammenführung“ (ihre Entscheidung zur Rückkehr) bis hin zum Einfluß auf das Strafmaß verstellt den Blick für das Mädchen. Sie entlastet sowohl die Familie als auch diese Gesellschaft von ihrer Verantwortung .
Es wurde nicht hervorgehoben, daß Männer kein Recht haben, in das Selbstbestimmungsrecht von Mädchen und Frauen einzugreifen. Insbesondere die Mädchen sind einer Verachtung ausgesetzt, die ihre gesamte Persönlichkeit umfaßt, wenn sie nicht in der Familie leben. Dies macht ausländischen Mädchen wenig Mut, auf „fremde“ Unterstützung zu hoffen, wenn sie in auswegloser Situation ihre Familie verlassen.
Ein Gericht, das „fremde“ kulturelle Hintergründe einzubeziehen bemüht ist, kommt nicht umhin, sich einerseits fachlich und qualifiziert mit dieser Kultur auseinanderzusetzen und andererseits mit geschlechtsspezifischem Blick die Lebensrealität der ausländischen Mädchen vor Ort mit all ihren Repressalien und Diskriminierungen, aber auch Stärken und Chancen einzubeziehen.
Das „Weglaufen“ von Mädchen ist eine Re–Aktion auf Bedingungen, mit denen sie sich nicht abfinden, die sie verändern wollen. Es ist ein Prozeß, in dem sie Verantwortung für ihr Leben übernehmen und sie die Chance haben, mit qualifizierter Unterstützung ihren Weg zu entwickeln. H. ist nicht nur Opfer. Sie hat die Erfahrung gemacht, daß sie tatsächlich das Recht wahrnehmen kann, ihr Leben zu gestalten und dies auch zu tun.
Der Weg und die Menschen mögen beiden Kulturen verschieden sein. Die Unterdrückungsmechanismen und die Folgen erleben alle Mädchen und Frauen jeder Nationalität, Religion und Kultur. Sind sich diese Kulturen gar nicht so fremd? Elke Ladwig, Kriseneinrichtung des Mädchenhaus e.V
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