Cassavetes etc.: Schön wie Gena Rowlands
■ Ein französischer Bildband über John Cassavetes und seine Filme
Auffällig ist, wie dramatisch die Bilder sind. Das gilt nicht nur für die Filmszenen, die in den Fotos des Magnum- und „Life“-Fotografen und Cassavetes-Freundes Sam Shaw dokumentiert werden, sondern auch für die Fotos, in denen die Situation des Drehens selbst festgehalten ist. Viele davon zeigen Cassavetes mit der Handkamera auf der Schulter in den unmöglichsten Positionen: Cassavetes im Liegen mit steil nach oben gerichteter Kamera, Cassavetes auf Zehenspitzen, Cassavetes, wie er sich langsam aufrichtet, um mit der Kamera eine hastig vorbeilaufende Personengruppe zu verfolgen.
Die extremen Kamerapositionen dienen allerdings nicht dazu, eine ausgefallene Bildästhetik zu schaffen, die Schräge der Perspektive etwa irgendwie interessant zu machen. Das Gegenteil ist der Fall: Cassavetes' Gestus ist der der Hingabe – ans Getümmel und an die Schauspieler, die er da filmt. Er würde mehr als einen Hexenschuß riskieren, um nur den einen einzigen Winkel zu finden, in dem allein der Gesichtsausdruck eines Schauspielers nach einem Kuß oder einer Ohrfeige zu erspähen ist, die Lücke, die den Weg ins Geschehen weist. Ums Bild selber geht es nicht. In Cassavetes' Filmen agierten die Schauspieler nicht im Hinblick auf die Kamera, wie in Hollywood-Filmen üblich, sondern die Kamera war die Schaulustige, die den Einblick in die scheinbar auch ohne die Kamera existierende Aktion suchte.
Dramatisch sind die Bilder wie Reportagebilder von dramatischen Szenen im Leben. Cassavetes entdeckte, gleichzeitig mit anderen Autorenfilmern der 60er und 70er Jahre, aber unabhängig von ihnen, die dokumentarische Seite des Kinos – Kino, so Cassavetes, ist immer Dokument, und sei es des Gesichts eines Schauspielers in einem bestimmten Moment. Daraus erst ergab sich für ihn die Sprengkraft der Geschichten, die er erzählte. Das System, Hollywood, entlarvte er nebenbei als Schein, Manipulation und Zwang.
Sam Shaw, der Fotograf, erzählt in einem Interview mit Romuald Karmakar, das vorgestern zum Abschluß der Cassavetes- Reihe im WDR lief, worum es Cassavetes im Gegensatz zu Hollywood ging: Freiheit. Das hieß konkret: die Freiheit der Schauspieler, sich in den Szenen so zu bewegen, wie sie es – nach langen Improvisationen mit dem Regisseur – für richtig hielten. Feste Regeln für die Bildkompositionen ließen sich also gar nicht definieren. Shaws Fotos verhalten sich nicht anders zu ihrem Gegenstand. Oft sind sie unscharf oder verwackelt. Aber das sind keine Stilisierungsmittel, das passiert eben, wenn man die Unwiederholbarkeit eines Moments, eines Ausdrucks ins Bild setzen will. Die Bilder sind schön wie Gena Rowlands – schöner als schön, weil es ihnen so wenig darum geht.
Das Buch, herausgegeben von den „Cahiers du cinéma“, enthält neben den Fotos von Sam Shaw einige Texte von John Cassavetes über seine Filme und ein Vorwort von Andre S. Labarthe. Einige der Shaw-Fotos sind gerade auch in dem bei PVS herausgegebenen Band „John Cassavetes – Director“ von Andrea Lang, dem jüngsten deutschen Buch über den Regisseur, erschienen, allerdings in kleinerem Format und in weniger guter Druckqualität. thc
„John Cassavetes – Autoportraits, Propos sélectionnés par Ray Carney, Photos de Sam Shaw et Larry Shaw“, Editions de l' Etoile/Cahiers du cinéma, Paris 1993, 320 Francs.
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