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■ CannescannesSie lüpft den Rock

Verdammt, sie zieht sich nicht aus! Eine Nackttänzerin, die sich nicht auszieht. Und natürlich nicht irgendeine, nein, die hübscheste von allen. Sie öffnet ihre Bluse, lüpft ihren Rock. „Dieser Film atmet den schweren Duft des Geschlechtlichen“, hätte ein evangelischer Kritiker vor dreißig Jahren geschrieben. „Dieser Film hat so was Antörnendes“, sagt eine Kritikerin heute. Der Trick funktioniert also auch bei Frauen. So war das immer im Kino: Die simpelsten Einfälle sind die besten. Aber sie müssen auch funktionieren. Im Wirkungszusammenhang sozusagen. In Atom Egoyans „Exotica“ funktiert es. Der Film läßt einen nicht los, obwohl er so konstruiert, so unwahrscheinlich wirkt.

Ein Steuerprüfer – ein Steuerprüfer! – kommt alle zwei Nächte ins „Exotica“. Das Mädchen tanzt für ihn – und unter den eifersüchtig wachenden Augen eines liebeskranken Discjockeys – als „Schulmädchen“. Alle kennen die traurige Geschichte des Steuerprüfers. Seine Tochter ist vor Jahren ermordet worden, die Polizei hatte zunächst ihn selbst verdächtigt, bis sie den richtigen Mörder fand – wenn er der richtige Mörder war. Chrissy, die Tänzerin, kannte die Tochter auch, sie hatte sie des öfteren gehütet. Jetzt trägt sie dieselbe Kleidung wie die Tochter am Tag des Mordes. Weiße Bluse, grünblauer Schottenrock mit großer Sicherheitsnadel. Sie öffnet die Bluse, sie lüpft den Rock. Sie setzt sich auf den Bühnenboden, wie es nur Mädchen können, mit nach außen gewinkelten Knien. Das ist ja pervers!

Pervers? Oder ein Selbsttherapieversuch des gebeutelten Steuerprüfers? Hinzu kommt dieser DJ, ein finsterer Mann, der auch in die sich langsam, Schicht für Schicht entschälende Vorgeschichte verstrickt ist. Hinzu kommt ein Tierschmuggler – einer, der Eier exotischer Vögel aus dem Dschungel klaut. Der Mann ist schwul. Der Steuerprüfer prüft seine Steuern, stößt auf Unregelmäßigkeiten, setzt ihn unter Druck, und so wird auch er hineingezogen. Hinzu kommt ein schwarzer schwuler Zollbeamter. Hinzu kommt dieses andere Mädchen, ein wirkliches Schulmädchen. Der Steuerprüfer bezahlt ihr für eine Dienstleistung gutes Geld, die lange nicht gezeigt wird. Hinzu kommt, daß dieser Steuerberater ein echt sympathischer, feinfühliger und höflicher Mann zu sein scheint.

Daß sich ein Regisseur so etwas ausdenkt, mag ja angehen, aber wer würde dafür Geld hinlegen? Augenblick. Mal nachsehen. Er hat selbst produziert, steht im Pressematerial.

Nacht für Nacht, Schicht für Schicht, Tanz für Tanz nähert sich der Film dem Moment der Wahrheit. Chrissy öffnet die Bluse, lüpft den Rock. Es erweist sich, daß sie zwar Strümpfe, aber keine Strapse und einen anständigen Schlüpfer trägt. Sie ist wirklich ein hübsches Mädchen. Der DJ legt – es handelt sich um einen kanadischen Film – eine Platte von Leonard Cohen auf. Die Stimme dröhnt und schnarrt wie eine ausgeleierte Kontrabaßsaite: „Everybody knows, everybody knows, everybody knows“. Der alte Angeber. Und Chrissy zieht und zieht sich nicht aus.

Das ist kein Film, das ist eine Zwiebel. Das macht den Kritiker weinen. Eine so zusammengeschusterte Geschichte. Ob im Kern eine Wahrheit lauert, kann ich nicht verraten – man hat ja ein journalistisches Ethos. Man ist ein bißchen ratlos und ziemlich fasziniert. Was sagt der Regisseur? Etwas von „selbstgemachten Mythen, in die die Menschen ihren Schmerz verwandeln“. Nun gut. Und daß er „den Film wie einen Striptease aufbauen wollte“. Tja. Das funktioniert. Aus Cannes Thierry Chervel

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