piwik no script img

CannesCannesPrüfung und Wahrheit

■ Im Wettbewerb: „Moloch“, „Wonderland“ und „Judy Berlin“

Merkwürdigerweise glaubt man bei jedem Wettbewerbsfilm, dies sei der Augenblick der Prüfung. Am dritten Tag des Festivals nannte er sich „Moloch“ und nahm sich Eva Brauns Schicksal an. Das Monster lieben: So ähnlich darf man sich die Idee vorstellen, die Aleksandr Sokurow dabei verfolgte. Da nun Eva Braun ohne ihren Adi nicht denkbar ist, läuft die Sache doch auf Hitlers Tischgespräche mit Eva B. und den Gästen Martin Bormann, Magda und Joseph Goebbels hinaus. Auch wenn das Skript von Juri Arabow nicht explizit Anleihe bei Percy Schramm nimmt, sehen wir den Reichstagsstenographen, wie es ab 42 üblich war, jedes kostbar delirierende Wort des Führers notieren. Tatsächlich ist „Moloch“ weder ein Eva-Braun-Film noch überhaupt ein Film. Es ist ein Theaterstück, das durch beschlagenes Glas, soll heißen, einen Spezialfilter hindurch aufgenommen wurde. Die Bilder von der Berghof-Adaption oder vom Wandertag der illustren Gesellschaft sehen dann freilich so aus, als ob Sokurow sämtliche Gemälde Caspar David Friedrichs in einen Computer eingescannt und mit dem Programm „der deutsche expressionistische Stummfilm“ überarbeitet hätte, um daraus ein neues Bildgenerierungsprogramm namens „Nebulös“ zu entwickeln. Bislang gilt Sokurow, der zuletzt mit „Mutter und Sohn“ reüssierte, ja noch als legitimer Erbe von Andrei Tarkowski, und sein Werk wird als „pure, uncompromised cinema“ gepriesen. Doch kompromißlos oder nicht, Ihre Berichterstatterin kann sich kaum etwas Kompromittierenderes vorstellen, als diese Seelenmassage mit Adi H.

Doch wie war das? Worum ging es in der letzten Lieferung? Um die Wahrheit! Évidamment! Also, um ihr Genüge zu tun: Nein, nicht jeder Wettbewerbsfilm entpuppt sich als eine Prüfung. „Wonderland“ von Michael Winterbottom zum Beispiel ist ein aktueller, gut gemachter Film. Bewußt low key die Handkamera, das nachträglich aufgeblasene 16-mm-Format und die Arbeit nur mit dem vorhandenen Licht, das die Straßen von London spenden, dem Wunderland von Winterbottoms Homemovie, in dem der durchweg triviale Alltag dreier Schwestern aus der britischen Arbeiterklasse spannend wird: Die Suche nach Mr. Right, die Geburt eines Kindes, die Angst vor der Familie.

Und dann, in der Reihe „Un certain regard“, ein kleiner, feiner Triumph des Kinos. Ein schlichter Schwarzweißfilm, der einfach großartig ist. David Gold, 30, angeblich Filmemacher in Los Angeles, ist nach Babylon, Long Island, zu seinen Eltern heimgekehrt. Entgegen seinem Namen ist der New Yorker Vorort das ruhige Refugium älterer Leute. Hier macht Judy Berlin ihre Abschiedstour, sie muß weg, will sie – mit 32 – ihre Schauspielerkarriere noch pakken. Eric Mendelsohn gelingt es in seinem Debütfilm „Judy Berlin“, die Begegnung der beiden Verlierer an einem Ort, an dem alle irgendwie auf dem absteigenden Ast sind, als komische, unsentimentale und dabei anrührende Geschichte zu erzählen. Eine Sonnenfinsternis erlaubt es dem Regisseur, der bislang bei Woody Allen ausgerechnet die Kostüme machte, ganz unprätentiös mit dem Schwarzweißfilm und dem Licht zu experimentieren und seine superbe Schauspielertruppe in eine „Twilight Zone“ weit jenseits von Mainstream und Kunstkino zu versetzen. Ich würde ja hier von „pure, uncompromised cinema“ sprechen, aber belassen wir's bei intelligentem Kino. Dafür sollte man jeden Kompromiß eingehen. Brigitte Werneburg

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen