CHINAS FÜHRUNG GÖNNT SICH EINE IDEOLOGISCHE VERSCHNAUFPAUSE: Reformen brauchen Zeit
Eine seltsame Ruhe, wenn nicht gar Langeweile, begleitete gestern den chinesischen Premierminister Zhu Rongji bei seinem zweistündigen diskursiven Ritt durch die Weltgeschichte. Dabei fand in der Großen Halle des Volkes zu Peking bei früheren Gelegenheiten regelmäßig d e r imaginäre Showdown des 21. Jahrhunderts statt.
Bisher hatten westliche Reporter noch nach jedem Volkskongress just an dieser Stelle beißende Fragen lanciert. Immer wieder unterstellten sie China Menschenrechtsverletzungen, Großmachtsucht und eine Menge anderer böser Dinge. Im Gegenzug erhob Zhu schrille Anklagen wegen westlicher Waffenlieferungen an Taiwan und anderer, ebenso schlechter Taten. Diesmal jedoch war von einem Tonfall, der einen neuen kalten Krieg im Fernen Osten zuweilen unausweichlich erscheinen ließ, nichts zu spüren.
Der Westen hat sich längst an ein kommunistisches China gewöhnt. Das Land, dessen System nach Tiananmen-Massaker und Mauerfall zunächst anachronistisch wirkte, hat sich in den vergangenen zehn Jahren als außenpolitisch flexibel und wirtschaftlich reformfähig erwiesen. Zhu Rongji ist das Gesicht dieses neuen China – und der Mann hat Erfolg: Nach fünf Jahren Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 8 Prozent will Zhu jetzt noch einmal fünf Jahre mit nur wenig reduziertem Tempo weitermachen.
Wenn das klappt, dann bleibt die Volksrepublik stabil. Und die erneut steigenden ausländischen Investitionen in China zeigen an: Es kann klappen. Anders als etwa im Hinblick auf die umstrittene Konjunkturpolitik Japans gibt es im Westen auch unter Experten kaum Kritik am makroökonomischen Kurs Pekings. Zhu, den sogar der elitäre ehemalige US-Finanzminister Larry Summers als fachlich ebenbürtig empfand, macht einfach alles richtig. Angesichts dessen heißt die Frage an den Westen: Warum noch mit China streiten?
Die Kritik an den andauernden Menschenrechtsverletzungen bleibt richtig. Doch sie verliert an Überzeugungskraft, wenn sie sich vor im Glaubenskern menschheitsverachtende fundamentalistische Gruppen wie die von Peking brutal verfolgte Falun-Gong-Sekte stellt. Letztendlich ist es doch so: China braucht Zeit, um sich weiter von oben zu reformieren; und der Westen braucht Zeit, um das Land von innen besser kennen zu lernen – deshalb wird es in den nächsten Jahren eine Verschnaufpause geben. Hoffen wir also, das Zhus Rechnung aufgeht. GEORG BLUME
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