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CHEVÈNEMENT IST EINER DER LETZTEN POLITIKER MIT ÜBERZEUGUNGENEin Rücktritt aus Prinzip

„Ein Minister hält sein Maul, oder er tritt zurück.“ Dieser Satz, den der damalige französische Industrieminister Jean-Pierre Chevènement 1983 formuliert hat, ist sein Leitmotiv. Dreimal ist er seither aus linken Regierungen zurückgetreten: 1983 aus Protest gegen die rechtsliberale Wende in der Wirtschaftspolitik. 1991 aus Protest gegen die französische Beteiligung am Golfkrieg. Und jetzt aus Protest gegen ein Autonomieabkommen für Korsika, das Premier Jospin unter anderem mit Nationalisten ausgehandelt hat, die nicht bereit sind, sich von den Mördern in ihren Reihen zu distanzieren.

Im Gegensatz zu anderen Regierungspolitikern geht Chevènement nicht, weil er versagt hätte oder in irgend eine dubiose Affäre verwickelt wäre, sondern aus Überzeugung. Damit gehört Chevènement zu einem Politikertyp, der in Europa selten geworden ist. Bei aller Kritik an der Einwanderungspolitik Chevènements – entgegen den Versprechungen von Premierminister Lionel Jospin verschaffte er nur einem Teil der „Papierlosen“ in Frankreich eine legale Existenz – hat der zurückgetretene Innenminister damit in der französischen Rechten und in der Linken Glaubwürdigkeit bewiesen. Langfristig wird sich das als politisches Kapital auswirken. Unter anderem, weil seine Ideen im Gegensatz zu dem stets einstelligen Wahlergebnis seiner Bürgerbewegung über eine breite Basis in Frankreich verfügen – sei es in der Wirtschafts- oder der Sicherheitspolitik.

Was Korsika betrifft, herrscht gegenwärtig noch Zweifel vor. Alle Franzosen sind sich einig, dass der Kreislauf von Gewalt, Unterentwicklung und Abwesenheit von Rechtsstaatlichkeit auf der Mittelmeerinsel beendet werden muss. Das Interesse an jedem neuen Befriedungsversuch ist deswegen groß. Zugleich befürchten viele, dass ein mit den Vertretern der bewaffneten Nationalisten und unter dem permanenten Druck neuer Attentate ausgehandeltes Autonomiestatut die Inselbevölkerung noch stärker den mafiösen Kräften, die sich „Nationalisten“ nennen, ausliefern könnte, als das schon bisher der Fall ist. Sollten sich diese Befürchtungen bestätigen, könnte sich Chevènements Analyse auch in der Korsikafrage durchsetzen – auf dem Kontinent und auf der Insel. DOROTHEA HAHN

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