: Bunte Mischung auf dem Eis
■ Schlittschuhlaufen in Berlin - eine taz-Serie / Teil 1: Im Erika-Heß-Stadion im Wedding treffen Prolos, Studenten, Immigrantenkids und Senioren aufeinander
Der Zeiger der Uhr am Flutlichtmast ist schon auf zwei Minuten nach halb acht gerückt. Die Laufzeit hat begonnen, doch niemand betritt die Eisfläche, die von dem silbern glänzenden Schering- Gebäude und einem stillgelegten Gefängnis eingerahmt wird. Mit erstaunlicher Disziplin warten die Teenies an der Bande darauf, daß der unsichtbare DJ den Plattenteller anwirft. Der erste Ton gibt das Startsignal.
Eine kleine Gruppe Halbstarker prescht aufs Eis. Schnell ziehen sie ein paar Runden. Zwei Rituale gehören zum festen Repertoire ihres Imponiergehabes: Im Affenzahn und um Haaresbreite zischen sie an den Mädchen vorbei, oder sie rasen mit Karacho auf ihre an der Bande lungernden Kumpels zu und bremsen dann voll ab, so daß Eisbrocken aufstieben. Doch die Clique gleichaltriger Mädchen in Jeans und Parkas zieht sich zu ausgedehnten Rauchpausen vor den Kiosk zurück und würdigt die Jungs keines Blickes.
Selbst einige Prolos Ende der Dreißig erliegen pubertären Regungen. Einer bringt seinen Kumpel durch einen hinterhältigen Angriff auf die Waden beinahe zu Fall. Unbeeindruckt von solcherlei Treiben dreht ein Ehepaar seine Runden. Der Mittfünfziger, der wie ein durchschnittlicher BVG- Busfahrer aussieht, zirkelt mit unerwarteter Grazie exakt drei Schritte hinter seiner Frau her. Doch die blondierte Gattin sieht seine balzenden Bewegungen gar nicht. Sie starrt hochkonzentriert nach vorne und dreht unbeirrt Runde für Runde.
In den Umkleideräumen sitzen derweil zwei Pärchen und proben Zungenküsse. Das Eisstadion als Cruising-Zone für die Hetero-Jugend.
Auch der drahtige Rentner mit der hellgrauen Baseballmütze bewegt sich gekonnt zum Technosound. Vorwärts, rückwärts, immer im Takt bleibend, wechselt er in Sekundenschnelle die Fahrtrichtung. Dagegen sieht der Jurastudent – Modell Burschenschaftler mit Schnauzbart – alt aus. Stocksteif zieht er seine Bahnen. Der wendige Rentner sticht auch einen 50jährigen TU-Dozenten aus, der im Schneckentempo vor sich hin eiert.
So wild gemischt das Publikum im Erika-Heß-Stadion ist, so unberechenbar ist die Musikauswahl des DJ. Meist dominieren Diskostücke aus den Top 40 mit gelegentlichen Techno-Einlagen. An manchen Abenden jedoch spielt er Elvis-Presley-Schnulzen und schreckt auch vor deutschen Schlagern nicht zurück. Das Publikum läßt sich davon nicht beirren.
Der Star des heutigen Abends ist unbestritten ein etwa dreizehnjähriger Koreaner in viel zu weiten blauen Satinhosen. Mit unübertroffener Leichtigkeit kreiselt er durch die Menge, legt die rasanten Wendungen genau auf die Beats der Musik. Dazwischen wuseln ein paar arabische Dreikäsehochs, die offenbar zum ersten Mal auf den Kufen stehen. Daß sie alle paar Meter stürzen, tut ihrer Begeisterung keinen Abbruch. Voller Stolz fahren sie um die Wette auf ihren Vater zu, der sie abholen kommt – um mangels Bremstechnik wieder auf dem Hintern zu landen. Mit ein paar blauen Flecken mehr, aber glücklich ziehen sie von dannen. Dorothee Winden
Erika-Hess-Stadion, Müllerstraße 185, U-Bahnhof Reinickendorfer Straße
Öffnungszeiten:
Montag bis Samstag:
9 bis 12 Uhr/12 bis 14 Uhr/15.30 bis 17.30 Uhr;
montags 12 bis 14 Uhr (nur für Erwachsene);
sonntags: 9 bis 12 und 14 bis 17 Uhr;
Eisdisco: montags in der Halle von 19.30 bis 21.30 Uhr;
Frühlauf in der Halle: Di., Mi. und Do. 7.30 bis 9 Uhr.
Am 31.12. ist nur von 9 bis 12 Uhr und am 1.1. nur von 14 bis 17 Uhr geöffnet;
Eintritt 4 DM, ermäßigt (Jugendliche, Studenten etc.) 2 DM;
Schlittschuhe können gegen ein Pfand (Personalausweis, Führerschein oder 100 DM) für 5 bis 7 DM pro Stunde ausgeliehen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen