Bundestagswahl in Berlin: And the winner is …
Zwölf Wahlkreise, zwölf Prognosen: Die taz erklärt, wo es am 23. Februar spannend wird beziehungsweise wo der Gewinner eigentlich schon feststeht.
Rund zweieinhalb Millionen Berlinerinnen und Berliner dürfen am 23. Februar an der Bundestagswahl teilnehmen – weniger als bei der jüngsten Europawahl und der nächsten Abgeordnetenhauswahl 2026: Auf diesen beiden Ebenen können auch 16- und 17-Jährige abstimmen. Bei der Bundestagswahl hingegen liegt das Mindestalter bei 18.
Genutzt haben dieses Wahlrecht bei der jüngsten Auflage der bundesweiten Wahl – 2021 plus Teilwiederholung im Januar 2024 – bei Weitem nicht alle: Weniger als 70 Prozent gingen ins Wahllokal, schickten ihre Stimme per Brief oder stimmten vorab direkt in einem Berliner Rathaus ab.
Egal wie viele Berliner sich für welche Partei auch immer am 23. Februar entscheiden: Das bundesweite Wahlergebnis insgesamt beeinflusst es nur am Rande – die Berliner Stimmen machten 2021 weniger als ein Fünfundzwanzigstel beziehungsweise nur vier Prozent der Stimmzettel aus. Alles entscheidend aber sind diese Stimmen für die zwölf Wahlkreise Berlins. Sie sind in großen Teilen mit den Bezirken identisch. Einzige Ausnahmen: Charlottenburg-Nord gehört anders als sonst zum Wahlkreis Pankow, Prenzlauer Berg Ost zum Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg.
Bei diesen Wahlkreisen, von denen es bundesweit 299 gibt, kommt Berlin eine besondere Rolle zu: Hier zwei der zwölf Wahlkreise zu gewinnen, hielt die Linkspartei 2021 samt einem weiteren, in Leipzig gewonnenen Wahlkreis, im Bundestag – obwohl sie bei den Zweitstimmen unter der Fünfprozenthürde blieb. Denn die sogenannte Grundmandatsklausel besagt: Wenn eine Partei mindestens drei Wahlkreise gewinnt, wird ihr Zweitstimmenergebnis komplett auf Parlamentssitze angerechnet, auch wenn es unter fünf Prozent liegt.
Eines dieser beiden Berliner Mandate soll Parteiikone Gregor Gysi erneut in Treptow-Köpenick holen, dann zum sechsten Mal. Das zweite gewann seit 2002 in Lichtenberg durchweg Gesine Lötzsch. Doch die tritt nicht mehr an – an ihrer Stelle kandidiert die neue Bundesvorsitzende Ines Schwerdtner. Das Problem: 2021 gelang der Wahlkreissieg nur durch Lötzsch’ Popularität. Sie holte fast 26 Prozent, während ihre Partei bei den Zweitstimmen nur 18,3 Prozent holte und klar hinter der SPD lag – und das noch vor der Abspaltung des BSW.
Die CDU wiederum könnte von einer Besonderheit der jüngsten Wahlrechtsreform betroffen sein. Gewinnt sie mehr Wahlkreise, als nach ihrem Zweitstimmenergebnis Sitze zustehen, dürfen nicht mehr alle Wahlkreisgewinner in den Bundestag. Die mit den schwächsten Ergebnissen müssten draußen bleiben.
Friedrichshain-Kreuzberg
Berlins sicherster Wahlkreis, der wie seit 2002 wieder an die Grünen geht. Siegerin wird aber nicht Canan Bayram sein, die hier 2021 doppelt so viele Stimmen holte wie die zweitplatzierte Konkurrenz von der Linkspartei: Sie überwarf sich im Herbst 2024 mit ihrer Partei. Stattdessen kandidiert Katrin Schmidberger, die langjährige Mieten-Expertin der Grünen im Abgeordnetenhaus. Mit ihr kehrt mittelbar der 2022 verstorbene Hans-Christian Ströbele in den Bundestag zurück, der den Wahlkreis ab 2002 viermal in Folge gewann: Schmidberger war bis 2011 acht Jahre Mitarbeiterin von Ströbele.
Charlottenburg-Wilmersdorf
2021 inklusive der Teilwiederholungswahl im Februar 2024 gab es hier das knappste Ergebnis. Ex-Regierungschef Michael Müller (SPD) lag nur einen halben Prozentpunkt vor CDU und Grünen, für die Bundesfamilienministerin Lisa Paus antrat. Die seither weiter zugunsten der CDU veränderte Umfragelage dürfte Müller darum chancenlos sein lassen. Er wäre damit raus aus dem Bundestag, weil die SPD ihm auf ihrer Landesliste keinen aussichtsreichen Platz zugestehen mochte. Paus wiederum konnte ihren gewachsenen Bekanntheitsgrad als Ministerin nicht in Prozente umwandeln: Sie erhielt weniger Stimmen als die Grünen über die Zweitstimme. Erster, wenn auch weit weniger bekannter Sieganwärter in einem knappen Duell ist darum der neue CDU-Kandidat Lukas Krieger.
Steglitz-Zehlendorf
Hier hat seit 1990 mit zwei Ausnahmen und zuletzt durchweg seit 2005 die CDU gewonnen, selbst bei ihrer bundesweiten Wahlniederlage 2021. Damals war der Vorsprung bei den Erststimmen zwar auf vier Prozentpunkte geschrumpft, beim aktuellen Umfragestand aber dürfte der neue CDU-Kandidat Adrian Grasse – er löste Ex-Justizsenator Thomas Heilmann ab, der nicht mehr antreten mochte – gegen Berlins SPD-Spitzenkandidat Ruppert Stüwe und die Grünen-Landesvorsitzende Nina Stahr gewinnen.
Treptow-Köpenick
Gregor Gysi holte hier 2021 mehr Erststimmen als die Zweit- und Drittplatzieren von SPD und CDU (damals Eisschnelläuferin Claudia Pechstein) zusammen. Wie sehr seine Linkspartei dort von ihm abhängt, zeigt das nur halb so gute Zweitstimmenergebnis der Linkspartei klar hinter der bei anderen Wahlen im Bezirk dominierenden SPD. Die CDU dürfte am meisten durch den Filmstar-Namen ihres Kandidaten Dustin Hoffmann auffallen.
Pankow
Bis Mitte Dezember galt der Wahlkreis als sichere Sache für die Grünen – bis nun womöglich haltlos gewordene Vorwürfe gegen Stefan Gelbhaar auftauchten, der in Pankow 2021 gewann und seinen Vorsprung bei der Teilwiederholungswahl im Januar 2024 gegen den Trend ausbauen konnte. Die Grünen tauschten ihn gegen seinen Willen als Direktkandidaten gegen das bisherige Abgeordnetenhausmitglied Julia Schneider aus. Weil unklar ist, wie das bei der Wählerschaft ankommt, gibt es Außenseiterchancen für CDU-Kandidatin Franziska Dezember.
Marzahn-Hellersdorf
Mutmaßlich nach Friedrichshain-Kreuzberg der Wahlkreis mit dem sichersten Wahlausgang: Mario Czaja (CDU) gewann hier schon 2021 ohne jeglichen bundespolitischen Rückenwind und wird darum diesmal bei deutlich besserer CDU-Umfragelage noch klarer vorne liegen. Platz 2 wird die Linkspartei wahrscheinich an die AfD abgeben müssen – wenn nicht das BSW für eine Überraschung sorgt: Für das Bündnis tritt ihr berlinweiter Spitzenkandidat Oliver Ruhnert an, der frühere Manager von Fußball-Bundesligist Union.
Lichtenberg
Vielleicht der unvorhersehbarste aller zwölf Wahlkreise. Denn hier wie sonst nur noch in drei anderen hat das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) einen Kandidaten aufgestellt, den Bezirkspolitiker Norman Wolf. Wie die neue Linkspartei-Bundeschefin Ines Schwerdtner als Nachfolgerin der hier fünfmal siegreichen Gesine Lötzsch ankommt, ist völlig offen. Bei der Abgeordnetenhauswahl 2023 lag die CDU – für sie tritt der langjährige Landesparlamentarier Danny Freymark an – im Bezirk klar vorne. Bei der Europawahl im Juni aber dominierte die AfD: Die hat hier mit der vor Ort nicht verwurzelten, aber überregional bekannten Beatrix von Storch ihre größten Chancen auf einen Berliner Wahlkreissieg.
Tempelhof-Schöneberg
Neben Lichtenberg der spannendste Wahlkreis. 2021 gewann hier der damalige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert. Doch der hat sich zurückgezogen, und für ihn tritt die Ex-Landeschefin der Jusos an: Sinem Taşan-Funke. Die Grünen müssen verkraften, dass die weithin bekannt Ex-Ministerin und frühere Parteivorsitzende Renate Künast nach 23 Bundestagsjahren nicht mehr kandidiert. Die Umfragewerte begünstigen den CDU-Mann Jan-Marco Luczak, der hier 2009, 2013 und 2017 gewonnen hatte. Er ist auch Berliner Spitzenkandidat der CDU. Seine Konkurrenz wird allerdings angesichts der Wohnungsnot in Berlin mutmaßlich stark thematisieren, dass Luczak sich – anders als sein Parteifreund Kai Wegner – Ende 2024 erneut ablehnend zur Mietpreisbremse äußerte. Wenn die CDU-Umfrageführung nicht einbricht, könnte er dennoch vorne liegen, weil die Bewerber von SPD und Grünen zu unbekannt sind.
Mitte
Es ist einer der wenigen Wahlkreise, in denen die CDU trotz Aufwinds keine Chance auf einen Sieg hat. Hanna Steinmüller von den Grünen dürfte sich erneut durchsetzen, und das deutlich. Denn schon 2021, als ihre Partei und die SPD bei den Zweitstimmen gleichauf waren, lag sie deutlich vor ihrer schärfsten Konkurrentin, der früheren Juso-Landeschefin Annika Klose, die ebenfalls wieder antritt. Weil Steinmüllers Grüne aktuell in Berliner Umfragen klar vor der SPD liegen, dürfte Klose keine Chance haben. Dass die CDU sich hier selbst keine Chancen ausrechnet, lässt sich schon daran ablesen, dass die 2021 hier kandidierende Ottilie Klein, mittlerweise Generalsekretärin ihres Landesverbands, in den Wahlkreis Neukölln wechselte.
Reinickendorf
Quasi das Zehlendorf des Nordwestens – jedenfalls, was die Dominanz der CDU bei den vergangenen vier Bundestagswahlen angeht. Es fehlt zwar dieses Mal der überregional bekannte Name der früheren Kulturstaatsministerin und Ex-CDU-Landeschefin Monika Grütters, die schon im September ankündigte, nicht erneut anzutreten. Doch ihr Nachfolger, der erst 30-jährige Marvin Schulz, ist dort geboren und als Fraktionschef in der Bezirksverordnetenversammlung gut vernetzt. Die Grünen schicken chancenlos das jüngste Abgeordnetenhausmitglied dort ins Rennen, die 25-jährige Klara Schedlich.
Neukölln
2021 war das eine klare Sache für die SPD und ihren Kandidaten Hakan Demir. Doch da lag die SPD bundesweit vorne – jetzt ist sie in Umfragen gerade mal halb so stark wie die CDU. Die dominierte in Neukölln auch bei der Abgeordnetenhauswahl 2023 und lag in der jüngsten Berliner Umfrage weit vorne. Grüne und Linkspartei – Letztere auch schon vor der Abspaltung des BSW – haben auf dieser Basis keine Chance, auch wenn sie mit bekannten Namen antreten, nämlich Grünen-Wahlkampfleiter Andreas Audretsch und Ferat Koçak. Vorne dürfte deshalb CDU-Generalsekretärin Ottilie Klein liegen. Möglich ist aber, dass sie bei breiter Stimmverteilung dennoch nicht in den Bundestag einzieht: Wenn die CDU mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr nach den Zweitstimmen Sitze zustehen, bleiben die Sieger mit den schwächsten Ergebnissen draußen.
Spandau
Hier könnte es den einzigen SPD-Wahlkreissieg in Berlin geben. Der vormalige Bezirksbürgermeister Helmut Kleebank lag 2021 mit rund 32 zu 23 Prozent so weit vor CDU-Konkurrent Joe Chialo, heute Kultursenator, dass dieser Rückhalt auch bei aktuell schwacher SPD-Umfragelage reichen könnte. Der neue CDU-Kandidat gehört zu den Bewerbern mit dem vielfältigsten Werdegang: Bernhard Schodrowski, früher mal mit der damaligen Grünen-Spitzenpolitikerin Ramona Pop liiert, war als Polizist beim Mobilen Einsatzkommando, wurde Sprecher von Polizei, Justizverwaltung und IHK, Vize-Senatssprecher und mehrere Jahre Sprecher beim Entsorgerverbands BDE. Dass dessen Chef Peter Kurth, früher als CDU-Mitglied Berlins Finanzsenator, Nähe zu rechtsextremen Kreisen entwickelte, will Schodrowski nicht mitbekommen haben. „Erschüttert und überrascht“ sei er davon, sagte er dem Tagesspiegel.
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