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Bundeskongress des DGBZweckoptimistisch in die Zukunft

Trotz Mitgliederrückgang und grassierender Tarifflucht zeigt sich der DGB optimistisch, den „digitalen Kapitalismus“ zivilisieren zu können.

Rot ist die Hoffnung – trotz der Ausdehnung tariffreier Zonen Foto: imago/Emmanuele Contini

BERLIN taz | Reiner Hoffmann konnte der Versuchung nicht widerstehen. „Die freie Entwicklung eines jeden ist die Bedingung für die freie Entwicklung aller“, zitierte er in seiner Grundsatzrede auf dem DGB-Bundeskongress am Montag in Berlin das Kommunistische Manifest. Die Instrumente, um diese „freie Entwicklung“ zu ermöglichen, fuhr der DGB-Chef fort, seien „Tarifpolitik und ihre betriebliche Ausgestaltung durch Mitbestimmung“. Was Karl Marx und Friedrich Engels wohl davon gehalten hätten?

Wahrscheinlich nicht allzu viel. Aber Hoffmann ist ja auch kein revolutionärer Denker und der DGB nicht der Bund der Kommunisten. „Wir können und wir werden die großen Umbrüche unserer Arbeitswelt und Gesellschaft demokratisch, sozial gerecht und nachhaltig gestalten“, rief der 62-jährige Diplom­ökonom den 399 Delegierten optimistisch entgegen. „Was wir erleben, ist die Entstehung eines digitalen Kapitalismus, den wir zivilisieren werden.“ Es sei „die demokratische Beteiligung der vielen, die bei uns mitmachen, die uns kollektive Macht gibt“. Das klingt etwas zu schön, um wahr zu sein.

Am Morgen war Hoffmann mit 76,3 Prozent der Stimmen in seinem Amt bestätigt worden. Das Wahlergebnis ist eine herbe Klatsche für den Sozialdemokraten. Bei seiner ersten Kandidatur vor vier Jahren kam er noch auf 93,1 Prozent. Besser schnitt Hoffmanns Stellvertreterin Elke Hannack ab, die mit 86,5 Prozent wiedergewählt wurde. Damit konnte sich erstmalig eine Christdemokratin über die meiste Zustimmung auf einem DGB-Bundeskongress freuen. Auch die frühere Grünen-Bundestagsabgeordnete Annelie Buntenbach (81,2 Prozent) und das SPD-Mitglied Stefan Körzell (83,6 Prozent) erreichten bei ihrer erneuten Wahl in den geschäftsführenden Bundesvorstand ein stärkeres Ergebnis als Hoffmann.

Hoffmann muss den gewerkschaftlichen Dachverband durch Zeiten gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts steuern. „Wir sind immer noch der größte Mitgliederverband in Deutschland“, gibt er sich zwar selbstbewusst. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.

Organisierungsgrad auf historischem Tiefstand

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes und der Bundesagentur für Arbeit sind derzeit etwa 44,4 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig, davon sind mehr als 32,5 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Diesen Rekordzahlen steht jedoch ein schwindender gewerkschaftlicher Organisierungsgrad gegenüber, der inzwischen einen historischen Tiefstand erreicht hat. So zählen die acht im DGB zusammengeschlossenen Einzelgewerkschaften zusammen nur noch rund 5.995.000 Mitglieder, darunter 1,71 Millionen SeniorInnen. Unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung kamen sie noch auf 11,8 Millionen Mitglieder.

Zwar sind die DGB-Gewerkschaften in einigen Branchen nach wie vor stark, beispielsweise die IG Metall in der Autoindustrie oder Verdi im öffentlichen Dienst. Doch in etlichen Branchen sieht es mehr als mau aus. Das lässt sich auch an der Anzahl der Betriebe ablesen, die sich noch in der Tarifbindung befinden. Nach den jüngsten Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung sind mittlerweile 70 Prozent weder an einen Flächen- noch einen Haustarifvertrag gebunden. Das bedeutet: Gerade mal 56 Prozent der Beschäftigten arbeiten heute noch auf einer tarifvertraglichen Grundlage – in Ostdeutschland sind es sogar nur 47 Prozent. Einen Branchentarif besitzen im Westen 48, im Osten gerade mal 36 Prozent. Das macht Arbeitskämpfe schwer. Zum Vergleich: Vor zwei Jahrzehnten verfügten noch fast 74 Prozent der Beschäftigten deutschlandweit über einen Tarifvertrag.

Hoffmann wird zwar im Amt bestätigt – das Wahlergebnis aber ist eine herbe Klatsche

„Die abnehmende Tarifbindung und das Anwachsen tariffreier Zonen ist ein Angriff auf gewerkschaftliche Mitgestaltung und Mitbestimmung in Wirtschaft und Gesellschaft“, heißt es dazu im einstimmig beschlossenen Leitantrag des DGB-Bundesvorstandes. Da die eigene Kampfkraft nicht reicht, diesen fatalen Trend zu stoppen, soll die Bundesregierung nun für Abhilfe sorgen: Um Unternehmen die Tarifflucht zu verleiden, appelliert der DGB an die Große Koalition, die Möglichkeiten zu erweitern, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Mit einer solchen Allgemeinverbindlichkeitserklärung kann das Bundesarbeitsministerium einen Branchentarifvertrag auch für Betriebe verpflichtend machen, die einem Arbeitgeberverband entweder gar nicht oder nur „ohne Tarifbindung“ angehören.

Der Haken: Möglich ist das bislang nur auf Antrag eines von den Tarifparteien paritätisch besetzten Ausschusses, wodurch die Arbeitgeber de facto eine Blockademöglichkeit besitzen. „Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen darf nicht durch das Vetorecht der Arbeitgeber behindert werden“, sagte DGB-Bundesvorstandmitglied Stefan Körzell. Und er weist auf ein weiteres wirksames Mittel gegen Tarifflucht hin: „Am besten hilft die Politik, wenn sie öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergibt.“

Zu viel Parteimitgliedschaft im Spiel

„Manchen stellte sich die Frage, ob der DGB seine parteipolitische Neutralität aufgegeben habe“, formulierte ein Hamburger Verdi-Delegierter nicht nur sein Unbehagen bei der Aussprache zum Geschäftsbericht des Vorstands. Doch das dürfte gerade bei der derzeitigen Bundesregierung ein frommer Wunsch bleiben. Dabei hatten sich der DGB und insbesondere sein Vorsitzender Hoffmann vehement für den Fortbestand der schwarz-roten Koalition eingesetzt. Bei seiner geradezu flammenden Ansprache an die „lieben Genossinnen und Genossen“ auf dem SPD-Bundesparteitag Ende Januar verschwammen dabei auch schon mal die Grenzen zwischen dem DGB-Chef und dem SPD-Mitglied. Innergewerkschaftlich sorgte Hoffmann damit für einige Verstimmungen, was der zentrale Grund für sein schwaches Wahlergebnis sein dürfte.

Er wisse, dass einige „es kritisch gesehen haben, dass wir uns so klar positioniert haben“, ging Hoffmann auf die Kritiker ein. Aber im Vergleich zu den Alternativen sei die Fortsetzung der Großen Koalition die beste Option. So könnten die Gewerkschaften für sich „beanspruchen, dass wir einiges in diesem Koalitionsvertrag durchgesetzt haben“. Als „Erfolge“ bezeichnete Hoffmann die Rückkehr zur Parität in der Krankenversicherung, die Stabilisierung des gesetzlichen Rentenniveaus und die Zusage für mehr Investitionen in Bildung, bezahlbares Wohnen und eine nachhaltige Infrastruktur. Außerdem seien alle im DGB-Bundesvorstand gemeinsam der Auffassung gewesen, „dass wir eine möglichst stabile Regierung brauchen, gerade auch mit dem rechten Pack im Nacken“.

Das „rechte Pack“, sprich: die AfD, bewegt viele auf dem Bundeskongress. Vor und hinter den Kulissen kommt immer wieder die Rede auf die Partei, die auch unter Gewerkschaftsmitgliedern bedenklichen Zuspruch erfährt. 15 Prozent von ihnen entschieden sich bei der vergangenen Bundestagswahl für sie. Doch das ist kein Anlass zur Fraternisierung: Anders als der Münsteraner Katholikentag hat der DGB die AfD als einzige der im Bundestag vertretenen Parteien nicht zu seinem Bundeskongress eingeladen.

Die AfD versucht, die soziale Frage zu kapern, obwohl sie nichts für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu bieten hat

Annelie Buntenbach, DGB

Die AfD versuche, „die soziale Frage zu kapern, obwohl sie nichts für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu bieten hat“, konstatierte DGB-Bundesvorstandsfrau Annelie Buntenbach. Es dürfte nicht tatenlos zugeschaut werden, wie sich die RechtspopulistInnen „über ihre braunen oder blauen Hemden auch noch ein soziales Mäntelchen ziehen“. Da müssten die Gewerkschaften „mit klarer Kante gegen halten“, forderte Buntenbach. Sie wisse allerdings auch: „Da wird die Luft auch schon mal dünner, nicht nur im Osten der Republik.“

Immerhin: Bei den Ende Mai abschließenden Betriebsratswahlen haben AfD-nahe Gruppen keinen Blumentopf gewinnen können. Von rund 180.000 zu vergebenden Mandaten errangen Rechtsaußenlisten bislang knapp zwei Dutzend, zumeist zu Lasten arbeitgebernaher „christlicher Gewerkschaften“. Und es dürften nicht mehr viel dazu kommen. Die Listen der DGB-Gewerkschaften können sich hingegen sogar über Zuwächse freuen. „Das hat gezeigt: Wir können die Rechten in ihre Schranken weisen“, sagte DGB-Chef Hoffmann. „Unsere Betriebsräte stehen gegen Ausgrenzung, gegen Rassismus und gegen Spaltung, und das sind 99,9 Prozent der gewählten Betriebsräte.“

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3 Kommentare

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  • Ich hätte mir gewünscht, der DGB hätte auch mal diskutiert, wie zeitgemäß die gegenwärtig praktizierten Streiks noch sind. Vor allem im Dienstleistungsbereich.

    Jedenfalls kann ich mich nicht freuen, wenn Gewerkschaftsfunktionäre mit stolz geschwellter Brust verkünden, wie viele Züge und Flüge ausgefallen sind und wie viele Kindergärten geschlossen blieben.

     

    Denn damit treffen die Streikenden weniger ihre Unterdrücker und Ausbeuter, sondern andere Unterdrückte und Ausgebeutete, die sich ihrerseits nicht wehren können, denen Mehraufwand und –kosten entstehen, die ihnen, da „höhere Gewalt“, niemand erstattet. Und von denen auch noch „Solidarität“ erwartet wird.

    Ein Gewerkschafter sagte mir, als ich ihn daraufhin ansprach, es gäbe „leider“ keine andere Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen.

     

    Wirklich nicht? Vor Jahren streikten die Beschäftigten des damaligen städtischen Verkehrsbetriebes. Aber kein Bus und keine Straßenbahn fielen aus. Sondern die Streikenden verkündeten, dass während der Streikdauer keine Fahrscheinkontrollen stattfinden würden. Nach wenigen Tagen war dieser Streik erfolgreich beendet.

    Natürlich hängt die Art und Weise von Streiks dieser Art von der Branche ab. Aber es geht, man muss es nur wollen!

  • Warum gehen Mitglieder noch? Die Fokussierung auf „Großgeschäfte“ wie Tarifverhandlungen bringt den Gewerkschaften ja am meisten Geld. Einzelne Mitglieder werden sehr oft nicht hinreichend gut betreut und ggf. juristisch vertreten.

     

    Ein Beispiel: Rechtsschutzfälle 2017.

     

    Die Mitglieder der im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften werden bundesweit von rund 387 (nur!) Rechtsschutzsekretäre*innen im Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsrecht vertreten.

     

    Im Jahr 2017 haben die Juristen*innen der DGB Rechtsschutz GmbH bundesweit insgesamt 120.873 (das ist viel zu viel für nur 387 „Anwälte“) neue Verfahren aufgenommen. Das wären 312 Verfahren pro Rechtsschutzsekretär*inn pro Jahr.

    Bei so einer enormen Auslastung kommt entsprechend niedrige Erfolgsquote. Die Qualität hängt von der Quantität ab.

    https://www.dgbrechtsschutz.de/wir/publikationen/statistiken/

  • Warum verlieren Gewerkschaften Mitglieder seit Jahren.

    Folglich ein Beispiel.

     

    Um die arbeitslosen Menschen wird es auf den Webseiten von Gewerkschaften des DGB Verbundes geworben. Werden deren Interessen auch vertreten? Oder wäre das gegen die Interessen der DGB nahen politischen Partei?

     

    DGB Bundesvorstand verhinderte Veröffentlichung eines Papiers der eigenen Rechtsabteilung, das die Sanktionspraxis deutlich kritisiert.

    »Der Deutsche Gewerkschaftsbund ist daher der Auffassung, dass das Sanktionsregime nicht nur das Grundgesetz verletzt, sondern auch aus sozialpolitischen Gründen verfehlt ist.« So deutlich wurde selten von Seiten des DGB die Sanktionspraxis gegen Hartz-IV-Empfänger_innen verurteilt. Doch obwohl die Stellungnahme der Rechtsabteilung des DGB bereits mehrere Monate alt ist, ist sie kaum bekannt. Schließlich hat der DGB-Bundesvorstand eine Veröffentlichung verhindert. Auch der Sozialhilfeverein Tacheles e.V. wurde gebeten, die Stellungnahme nicht zu veröffentlichen, wie deren Geschäftsführer Harald Thome gegenüber »nd« bestätigte. Mittlerweile ist die 23-seitige Stellungnahme allerdings auf der Onlineplattform LabourNet Germany zu finden.

    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1067445.dgb-streitet-um-positionierung-zu-hartz-iv.html