Bürgerschaftswahl in Hamburg: Watt mutt, datt mutt
Die Umfragen deuten auf "hessische Verhältnisse" in der Hansestadt hin. Wahrscheinlich wird es dann eine Große Koalition geben. Eine Einschätzung
Nach dem Trend aller Umfragen in diesem Jahr wird es keine klaren Mehrheitsverhältnisse in der Hamburger Bürgerschaft geben. Schwarz, Schwarz-Gelb, Rot-Grün - nichts deutet darauf hin, dass eine dieser drei Optionen morgen nach 18 Uhr Realität werden könnte. Dann wird es unübersichtlich.
Die Ausgangslage: Die CDU wird ihre absolute Mehrheit im Landesparlament, die sie vor vier Jahren mit 47,2 Prozent erreicht hat, verlieren, sehr wahrscheinlich aber stärkste Fraktion bleiben. Die Prognosen liegen zwischen 42 und 38 Prozent. Zweitstärkste Fraktion wird erneut die SPD werden. Sie wird sich von 30,5 vor vier Jahren auf 36 bis 33 Prozent steigern. Die Grünen, die in Hamburg Grün-Alternative Liste (GAL) heißen, drohen einige ihrer bislang 12,3 Prozent einzubüßen. Sie werden auf nur noch 11 bis 9 Prozent geschätzt.
Bei dieser Wahl wollen noch zwei mitspielen: die Linke und die FDP. Der Linkspartei wird mit 8 bis 6 Prozent auf Anhieb der Einzug in die Bürgerschaft zugetraut. Die FDP turnt mit 5 bis 3,5 Prozent am Abgrund. 2004 war sie nach dem Bruch der Koalition aus CDU, Schill und FDP mit nur noch 2,8 Prozent aus dem Hamburger Rathaus geflogen.
Die Mehrheitsverhältnisse: Über die Koalitionen CDU/FDP oder SPD/GAL muss nicht lange spekuliert werden. Sollte eine davon dennoch eine Mehrheit erhalten, wäre die Koalitionsbildung zwar nicht schmerzfrei, aber erfolgreich. In jedem Fall betrüge die Wahrscheinlichkeit, zu regieren, 100 Prozent.
Müssten Lagergrenzen überwunden werden, um zu einer Mehrheit zu kommen, würde es arg schmerzhaft werden - für alle jeweils Beteiligten. Die Möglichkeiten in der Reihenfolge ihrer Unwahrscheinlichkeit sind:
Platz 6: CDU/Linke. Nicht mal einen Gedanken wert. Wahrscheinlichkeit: 0 Prozent.
Platz 5: Rot-Grün-Rot. Das Linksbündnis, das niemand will. SPD und GAL lehnen jede Zusammenarbeit mit der Linkspartei kategorisch ab. "Njet", stellt SPD-Spitzenkandidat Michael Naumann klar, der sich als "historisch bewusster Antikommunist" bezeichnet. Bei den Grünen haben für den Fall eines solchen Bündnisses drei Abgeordnete intern bereits mit ihrem Austritt gedroht. Die Linke schließt eine solche Koalition ebenfalls aus, höchstens eine Tolerierung wäre möglich. Wahrscheinlichkeit: 4,7 Prozent.
Platz 4: Schwarz-Grün-Gelb. Die Jamaika-Koalition scheitert an den Unvereinbarkeiten von FDP und GAL. Bei Justiz und innerer Sicherheit haben die beiden nahezu identische Positionen, ansonsten sind sie wie Feuer und Wasser. Ein Beispiel von vielen: Die FDP will selbst die Verkehrsbetriebe und die Sozialwohnungsgesellschaft Saga privatisieren. Wohin staatlicher Wohnungsbau führe, sagt Spitzenkandidat Hinnerk Fock, "haben wir in der DDR gesehen". Für die Grünen gibt es da keinen Verhandlungsspielraum. Wahrscheinlichkeit: 4,8 Prozent.
Platz 3: Rot-Grün-Gelb. Die Ampel kommt aus denselben Gründen nicht in Betracht. Wahrscheinlichkeit: 4,9 Prozent.
Platz 2: Schwarz-Grün. Bei den Themen Schule, Verkehr, Hafen, innere Sicherheit und Integration sowie Umwelt und Klima kommen CDU und GAL nicht zusammen. Einer der Partner - im Zweifel der kleinere - müsste sich bis zum Verlust der Glaubwürdigkeit verbiegen. Ein Beispiel: Die Grünen wollen die neunjährige Schule für alle, die CDU prangert sie als "sozialistische Einheitsschule" an und beharrt auf dem Gymnasium. Die grüne Spitzenkandidatin Christa Goetsch wäre in jeder Koalition Zweite Bürgermeisterin und Schulsenatorin. Ihre Schulpolitik ist für CDU-Bürgermeister Ole von Beust "nicht akzeptabel". Dass sie eine CDU-Schulpolitik machen würde, sagt Goetsch, "ist undenkbar". Wahrscheinlichkeit: 10,6 Prozent.
Platz 1: Große Koalition. Will niemand, aber im Notfall greift das plattdeutsche Motto "Watt mutt, datt mutt". Politik ist ja kein Wunschkonzert, und was im Bund sowie in Schleswig-Holstein und Meck Pomm leidlich klappt, wird in einem Stadtstaat - nach langjährigem Bremer Vorbild - schon funktionieren. Und zwar ganz hanseatisch. Wahrscheinlichkeit: 75 Prozent.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader