Bürgerrechtler über Grenzkontrollen der EU: „Europa wird noch unmenschlicher“
Die computergesteuerte Grenzsicherung der EU ist teuer, ineffektiv und vor allem menschenrechtswidrig, sagt Ben Hayes. Die EU sei zu sehr auf ihre Sicherheitsagenda fixiert.
taz: Herr Hayes, Sie haben die Pläne der EU zur Aufrüstung der Außengrenzen analysiert. Ihre Kritik kreist vor allem zum zwei Punkte: Alles sei zu teuer und ineffektiv. Sind das Ihre einzigen Probleme damit?
Ben Hayes: Nein. Das Ganze ist in der Tat zu teuer und ineffektiv. Aber es ist auch grundrechts- und menschenrechtswidrig.
Warum verstößt es gegen die Grundrechte, wenn zentral erfasst wird, wer nach Europa kommt?
Das stellt alle Drittstaatsangehörigen, die nach Europa einreisen, – jährlich rund 100 Millionen – unter Generalverdacht. Die laufende Rechtsprechung ist eindeutig: Die Speicherung personenbezogener Daten ist nur erlaubt, wenn eine konkrete Notwendigkeit, etwa zur Strafverfolgung, nachgewiesen werden kann. Davon kann hier aber überhaupt keine Rede sein.
Das neue System soll feststellen, ob Reisende länger bleiben als gestattet. Warum sollte die EU das nicht kontrollieren?
Die sogenannten Overstayer werden bei der Ausreise sowieso entdeckt. Wenn es wirklich darum ginge, das einzudämmen, gäbe es andere Wege.
ist Analyst bei der Bürgerrechtsorganisation „Statewatch“ und dem „European Center for Constitutional Rights“. Für die grüne EU-Fraktion hat er die Pläne zum Ausbau der EU-Grenzkontrolle analysiert.
Welche denn?
Die mit Abstand meisten Verletzungen der Aufenthaltsbestimmungen begehen Bürger von Staaten, die auf der „White List“ stehen: jene, die ohne Visum drei Monate bleiben dürfen, etwa USA, Kanada, Australien. Die bleiben oft einfach länger. Wenn überhaupt, sollte die EU ihre Politik gegenüber diesen Ländern prüfen. Stattdessen gibt man Milliarden für ein sinnloses System aus.
Weshalb glauben Sie, dass die Datenbank nicht greift?
Es gibt viele Gründe, warum man seinen Aufenthalt überziehen kann, wie Krankheit, Asylantrag, Unfälle. So aber werden alle automatisch polizeilich ausgeschrieben. Das ist sinnlos.
Wenn es sinnlos ist, warum, glauben Sie, will die EU die Daten haben?
Es ist denkbar, dass sie in Zukunft ähnlich genutzt werden wie das Schengener Info-System SIS. Das ist bisher vor allem dazu da, Kriminelle zu registrieren. Dann hätte die Polizei Zugriff auf eine riesige Biometrie-Datenbank.
Ist Datenschutz nicht das kleinste Problem für Papierlose, die in Europa sofort interniert werden, wenn die Polizei auf sie aufmerksam wird?
Die Gesetzentwürfe für Eurosur – das System zur Überwachung der Außengrenzen – sehen vor, keine Namen von Flüchtlingen zu erfassen und an Drittstaaten weiterzugeben. Das soll erschweren, dass Flüchtlinge nach einer Abschiebung misshandelt werden. Diese Klausel ist in den Vorlagen überhaupt nicht bestimmt.
Sie schlagen vor, darauf zu verzichten, mehr automatische Kontrollgates aufzustellen oder allen Einreisenden die Fingerabdrücke abzunehmen. Das wird am Sterben an den Außengrenzen nichts ändern. Müsste es nicht darum gehen, den legalen Zugang nach Europa wieder zu öffnen?
Schon. Aber das wird nicht passieren. Die EU hat die Zugangswege für Menschen in armen Ländern dichtgemacht, die Anforderungen für ein Visum sind extrem hoch. Dahinter wird sie nicht zurückfallen.
In Ihrer Studie heißt es, die geplanten „Smart Borders“ würden „unmenschlicher“. Was ist menschlicher daran, wenn mich ein Zöllner festnimmt, als wenn die automatische Schleuse einer „intelligenten Grenze“ mich nicht durchlässt?
Natürlich werden schon jetzt Computersysteme an den Grenzen eingesetzt. Aber es ist ein Paradigmenwechsel, eine andere Art von Regime, wenn solche Orte immer mehr von autonomen und semiautonomen technischen Systemen reguliert werden.
Technische Systeme, wie die Drohnen zur Migrationsabwehr, vor denen Sie auch in Ihrer Studie warnen? In den offiziellen Dokumenten ist davon aber nirgends die Rede.
Es ist wahr, dass Drohnen nicht explizit erwähnt werden. Das wird auch so bleiben. Aber die Eurosur-Bestimmungen ermutigen die Mitgliedstaaten dazu, Drohnen einzusetzen. Wir haben sechs offizielle Projekte des EU-Sicherheitsforschungsprogramms EUSRP identifiziert, die sich mit dem zivilen Drohneneinsatz befassen. Die haben ein Budget von rund 100 Millionen Euro. Dazu kommen militärische Drohnen-Forschungsprojekte der Europäischen Verteidigungsagentur EDA mit einem Budget in ähnlicher Größenordnung.
Wozu könnte die EU die Drohnen einsetzen wollen?
Beispielsweise um Küsten und Häfen in Herkunfts- und Transitregionen zu beobachten, etwa in Nordafrika. So könnten Zelte oder große Gruppen von Personen identifiziert werden, bevor sie sich überhaupt auf den Weg machen. Das wäre sehr hilfreich für Frontex. Das Gleiche gilt für die Überwachung des Meeres. Auf dem Radar fallen kleine Boote nicht auf.
Sie kritisieren die Rolle der Sicherheitsbranche bei der Einführung der neuen Grenzkontrollsysteme. Hat die Industrie den Politikern das Ganze eingeredet?
Die Industrie wirbt mit gewaltigem Aufwand für die Einführung dieser Technologien. Und die EU-Kommission könnte das System nicht vorschlagen, wenn es keine Industrie gäbe, die sagt: Wir können das liefern. Vor allem aber will die EU sich als Global Player für Sicherheitstechnologie aufstellen. Und deshalb subventioniert sie die Biometrie-Branche mit enormen Forschungsmitteln.
Sie fordern, die EU solle ihre Außenpolitik nicht primär an Sicherheitsaspekten ausrichten. Wie sähe das Ihrer Meinung nach aus?
Die EU hat nach den arabischen Revolutionen vor allem auf Kooperation bei der Migrationsabwehr gedrängt. Dabei haben die Länder Nordafrikas genug eigene Sorgen: Sie müssen ihre Demokratie stabilisieren, funktionsfähige Regierungen aufbauen. Dabei sollte die EU helfen, statt nur ihre eigene Sicherheitsagenda zu verfolgen.
Ist das nicht wahnsinnig idealistisch?
Ja, klar. Aber es gibt den Lissabon-Vertrag. Darin verpflichtet sich die EU, die Menschenrechte einzuhalten. Das kann man schon anmahnen.
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